Ein Kuss vor Mitternacht
lächelte. „Meine liebe Miss Woodley, kommen Sie zu uns. Mr. Penrose kennen Sie ja bereits, nicht wahr?“
„Aber ja. Freut mich, Sie wiederzusehen, Mr. Penrose.“ Constance strahlte ihn in ihrer Erleichterung an. Mr. Penrose straffte die Schultern und erwiderte ihr Lächeln erfreut.
Man sprach ein Weilchen über den Besuch in der Kirche, von dem Sir Lucien mit einem unmerklichen Augenzwinkern behauptete, er bedauere zutiefst, die Gelegenheit einer so belehrenden Besichtigung verpasst zu haben.
„Damit ist Ihnen ein wahrer Kunstgenuss entgangen, Sir“, versicherte Constance.
Mr. Penrose guckte sie so verdutzt an, dass Constance lachen musste.
„Es war sterbenslangweilig“, widersprach Penrose unverblümt, an Sir Lucien gerichtet. „Es sei denn, Sie sind einer jener romantischen Schwärmer, die gerne über Friedhöfe streifen und Grabinschriften von Menschen studieren, die seit Jahrhunderten vor sich hin modern. Nein, ich kriege davon Gänsehaut.“
„Tja, Miss Woodley, Mr. Penrose ist geradezu beschämend in seiner Offenheit. Nun sagen Sie mir ehrlich, haben Sie den Ausflug wirklich genossen?“ Sir Lucien schmunzelte ironisch.
Constance lachte wieder. „Sie werden mich nicht dazu verleiten, Sir Lucien, mich kritisch zu äußern. Ich fürchte, ich gehöre zu jenen Menschen, die ein makaberes Interesse an Grabinschriften haben. Im Übrigen verfügt die Kirche über einige historische Kunstschätze, die ich bemerkenswert lehrreich und wertvoll fand.“
„Bravo, Miss Woodley. Freut mich zu hören, dass Sie die bescheidenen Zerstreuungen genießen, die unser Landleben zu bieten hat.“
Constance drehte sich beim Klang von Dominics Stimme um. Er stand direkt hinter ihr und lächelte. Und wieder verspürte sie dieses beunruhigende Flattern in ihrem Innern.
Einen flüchtigen Moment geriet sie ins Wanken. Lord Leighton konnte nicht der Mann sein, als den ihn Lady Rutherford geschildert hatte. Er konnte nicht der gewissenlose Schwerenöter sein, der jungen Frauen den Hof machte, obgleich er mit einer anderen verlobt war.
Wobei, ermahnte sie sich, ein Betrüger wohl kaum erfolgreich wäre, wenn ihm seine schlechten Absichten ins Gesicht geschrieben wären. Sie sammelte sich und nickte höflich. „Lord Leighton.“
Damit blickte sie wieder Sir Lucien an, der den Viscount herzlich begrüßte, ebenso Mr. Penrose, der einen Schritt beiseitetrat, um ihn in die kleine Gruppe einzubeziehen. Constance achtete sorgsam darauf, Lord Leighton nicht anzusehen, und zum Glück verwickelte Sir Lucien ihn in ein Gespräch. Nach einer Weile entschuldigte sie sich mit der Notlüge, sie wolle sich um ihre Tante kümmern.
Sir Lucien und Mr. Penrose verneigten sich lächelnd, während Leighton sie eindringlich musterte. Constance verabschiedete sich hastig, bevor er etwas sagen konnte. Es wäre zu auffällig gewesen, wenn er ihr folgen würde, also war sie eine Weile vor ihm sicher.
Gezwungenermaßen musste sie sich Tante Blanches leeres Geschwätz anhören, aber wenigstens blieb sie von Lord Leighton verschont. Später beim Dinner saß sie am unteren Ende der Tafel zwischen Sir Lucien und Cyril Willoughby. Als sie Platz nahm, bemerkte sie Sir Luciens prüfenden Blick, mit dem er sie einen Moment lang forschend betrachtete, bevor er ihn zum anderen Ende der Tafel wandern ließ. Sie folgte seinem Blick, der sich auf Lord Leighton zu richten schien. Mit einiger Beklommenheit fragte sie sich, ob Sir Lucien Verdacht schöpfte, was sie und den Viscount anbetraf. Hatte sie die Gruppe bei Dominics Erscheinen zu überstürzt verlassen?
Doch dann lächelte Sir Lucien sie unbefangen an, und Constances Verdacht schwand. Sie räusperte sich und fragte Mr. Willoughby nach dem Erfolg des frühmorgendlichen Jagdausflugs.
Das Dinner verlief in gelöster Atmosphäre, ebenso der Rest des Abends. Im Salon setzte Constance sich zwischen Miss Cuthbert und Cousine Margaret. Während Miss Cuthbert so gut wie nicht sprach, plapperte Margaret unentwegt über nichtssagende Belanglosigkeiten. Constance ertrug ihr sinnloses Gerede mit beachtlicher Geduld, schließlich hatte sie sich nicht der Runde zugesellt, um einen angenehmen Abend zu verbringen. Vielmehr wollte sie vermeiden, dass Dominic sie irgendwo allein erwischte.
Lord Leighton stellte sich an den Kamin, lehnte den Ellbogen auf die Marmoreinfassung und unterhielt sich mit einigen Herren. Constance sah kein einziges Mal in seine Richtung, spürte allerdings immer wieder, dass er sie
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