Ein Kuss vor Mitternacht
war der Erbe und der erstgeborene Sohn. In den Augen meiner Eltern war kein Makel an ihm: Sie vergötterten ihn. Zum Glück hatten Francesca und ich einander und konnten uns gemeinsam gegen ihn zu Wehr setzen. Zu unserer Erleichterung wurde er irgendwann nach Eton ins Internat geschickt, und wir mussten ihn nur noch in den Ferien ertragen.“
Dominic legte eine Pause ein und blickte einen Moment nachdenklich zu Boden. „Als wir älter wurden, hörte Terence allmählich auf, uns zu schikanieren, und ließ uns links liegen. Ich weiß nicht, ob er seine sadistische Ader an seinen Schulkameraden ausließ, jedenfalls hatten wir nicht mehr so viel unter ihm zu leiden. Nach seinem Abschluss in Eton studierte er in Oxford, und als ihn das langweilte, begab er sich auf eine ausgedehnte Europareise. Nach seiner Rückkehr hielt ich mich nicht mehr häufig in Redfields auf, da ich mein Studium in Oxford beendet hatte und vollauf damit beschäftigt war, mich in London zu amüsieren und mir die Hörner abzustoßen. Auch Francesca war nur noch selten in Redfields. Sie hatte sich kurz nach ihrem Debüt verheiratet. Keinem von uns war aufgefallen …“
Dominic stockte. Eine unheimliche Ahnung stieg in Constance auf, sie wünschte beinahe, er würde nicht weitersprechen.
„Aber schließlich zog Ivy Francesca bei einem ihrer seltenen Besuche ins Vertrauen. Unsere kleine Schwester war zu verängstigt, um mit unseren Eltern zu sprechen, da sie befürchtete, sie würden ihr nicht glauben. Aber sie fasste all ihren Mut zusammen und berichtete Francesca, dass Terence ihr seit zwei Jahren regelmäßig Gewalt antat und sie missbrauchte. Sie war damals erst vierzehn. Und sie war völlig verzweifelt.“
„Oh mein Gott, Dominic“, entfuhr es Constance entsetzt. Sie lehnte sich an seine Schulter. „Wie grauenhaft. Das tut mir schrecklich leid.“
Er schlang die Arme um sie und barg das Gesicht an ihrem Scheitel. Dann setzte er mit heiserer Stimme seine Erzählung fort. „Francesca bat mich in einem Eilbrief, umgehend nach Redfields zu kommen. Sie war außer sich vor Sorge, hoffte aber, Terence würde Ivy während ihrer Anwesenheit in Ruhe lassen, und schloss sich nachts mit ihr in ihrem Schlafzimmer ein. Terence aber schaffte es, Francesca abzulenken, und wollte Ivy zwingen, mit ihm einen Reitausflug zu machen. Ivy gelang es, ihm im letzten Augenblick zu entkommen, und flüchtete zu Francesca, die ihn endlich zur Rede stellte und ihm erklärte, dass sie alles über ihn und seinen abscheulichen Missbrauch wisse. Terence leugnete kaltblütig und schwor, Ivy habe diese absurde Lügengeschichte nur erfunden. Francesca ging mit Ivy zu meinen Eltern und erklärte ihnen alles. Und meine Eltern … meine Eltern ergriffen Partei für Terence. Wie sie es immer getan hatten. Sie weigerten sich, Ivy zu glauben. Francesca wollte Ivy zu sich nehmen und flehte unsere Eltern an, ihre Zustimmung zu geben. Aber sie lehnten ab. Es würde ein schlechtes Licht auf sie werfen, argumentierten sie. Und es sei zu befürchten, Ivy würde ihre ‚Lügengeschichten‘ über Terence und ihr Elternhaus weiter verbreiten.“
Dominic löste sich von Constance, konnte nicht länger still sitzen in seinem aufgewühlten Gemütszustand und begann rastlos hin und her zu wandern. Constance beobachtete ihn hilflos, wünschte sich sehnlichst, ihm irgendwie in seiner Seelenqual helfen zu können.
„Francesca beschwor Ivy, sie dürfe um Himmels willen die Hoffnung nicht verlieren. Sobald ich in Redfields einträfe, würden wir sie wegbringen und vor den Eltern und Terence verstecken. Aber in ihrer Verzweiflung glaubte Ivy ihr nicht.“ Seine Lippen wurden schmal und weiß, seine Augen schimmerten feucht. „Welchen Grund hätte sie auch gehabt, ihr zu glauben? Wir hatten bereits jämmerlich versagt. Zwei lange Jahre war sie Terence ausgeliefert gewesen, der ihr immer wieder Gewalt antat, und wir hatten nichts dagegen getan.“
„Aber ihr habt doch nichts davon gewusst!“, rief Constance und sprang auf die Füße. „Wie hättet ihr das denn ahnen sollen?“
„Ich wusste, was Terence für ein Mensch war, und hätte besser auf Ivy aufpassen müssen. Ich hätte ihr Fragen stellen müssen. Lieber Gott, wenn ich sie mir genauer angesehen hätte, hätte ich erkennen müssen, wie unglücklich sie war! Aber nichts. Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir alle Vergnügungen eines wohlhabenden jungen Aristokraten in London zu gönnen.“ Er richtete den Blick in die Ferne. Und
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