Ein Land, das Himmel heißt
hörte sie noch etwas anderes. »Hör doch, die Brandung«, flüsterte sie, »ich kann das Meer hören …«
»Und sehen«, bemerkte Martin und deutete den Abhang hinunter.
Und tatsächlich, zwischen Apartmenthäusern und Hotelbauten leuchteten die weißen Schaumköpfe der Wellen, die sich auf den Felsen brachen. Ihr Blick glitt nach rechts, nach Süden. In dunstiger Ferne schimmerte Durban, sein Hafen vom Bluff, einem langen, buschbewachsenen Hügelrücken, umschlossen wie von einem schützenden Arm, einige Schiffe dümpelten weit draußen im Ozean auf Reede. Unterhalb der grünen Küste glitzerte die Brandung in der weiten Bucht wie ein kostbares Halsband. Die Nordküste wurde fast vollständig von den fedrigen Kronen eines Jakarandas und mehrerer Palmen verdeckt. Webervogelnester wie schwere, bauchige Melonen hingen an den meterlangen Wedeln. »Lass uns klingeln«, sagte sie, als sie sich satt gesehen hatte. Das Haus lag mehrere Meter unterhalb der Straße, eine steile Einfahrt, rechts von einer mit fingerdicken Metalldornen gekrönten Mauer begrenzt, links von hohen Blütenbüschen, führte hinunter. Die Einfahrt endete hinter einem hohen schmiedeeisernen, dornenbewehrten Tor unter einem uralten Mangobaum. Im Verlauf der Mauer, in die eine Tür eingelassen war, konnte sie eine Doppelgarage erkennen. Sie klingelten.
Ein Hund schlug an, kurz darauf wurde die Tür in der Mauer geöffnet. Eine fröhlich lächelnde junge Frau trat heraus, die einen prachtvollen Schäferhund an einer kurzen Kette hielt. Mit Knopfdruck öffnete sie das Tor. »Hallo, ich bin Mary, Lina hat mir schon Bescheid gesagt. Sehen Sie sich das Haus nur in Ruhe an. Ich koche uns inzwischen einen Tee.« Mit diesen Worten zog sie ihren Hund zur Seite und ließ sie durch die Mauertür treten.
Hingerissen blieb Jill stehen. Vor ihr lag ein sonnenüberschütteter Patio, in dessen Mitte ein türkisblauer Swimming-Pool funkelte. Das Grundstück war aus dem steilen Abhang herausgeschnitten und dann zu einer Plattform geschoben worden. Die Mauer, die es zur Straße hin abstützte, war ein Blütenmeer, ein Farbenrausch, eine Explosion in allen Tönen von Gold bis Rot. Das Haus, dessen Mauern über und über mit Prunkwinden und Passiflora berankt waren, saß auf dem angeschobenen Grund wie das Nest einer Sturmmöwe auf einem Felsvorsprung. Es lag zur Meerseite, schützte den großen Innenhof gegen den ständigen Wind. Wie verzaubert ging sie weiter, von der lächelnden Hausherrin beobachtet.
An sich war es nichts Besonderes. Eigentlich hässlich. Ebenerdig, flaches, schiefergedecktes Satteldach, kränklich gelb angestrichene Außenmauern, an denen die Installationsrohre entlangliefen. Baustandard der frühen siebziger Jahre. Drei Schlafzimmer, zwei Badezimmer, Gästetoilette, Küche, Wohn- und Esszimmer bildeten die Voraussetzung, ohne die man kaum eine Hypothek von der Bank bekommen konnte, aber die Zimmer waren von angenehmer Größe. Sie gingen durchs Wohnzimmer auf die große Veranda, die zur Meerseite lag. Unter ihnen fiel der üppige Garten in Stufen zu einer Hibiskushecke ab, über blühende Baumwipfel hinweg sah sie den Ort und das Aufblitzen der Brandung. Sie atmete tief durch. »Wann können wir einziehen?«
»Also, hör mal, Jill«, begann Martin. Sie fuhr herum und warf ihm einen Blick zu, der ihn seine Worte verschlucken ließ. Über die Miete, die sehr angemessen war, stritt sie nicht.
Zwei Tage später unterschrieb sie den Vertrag.
Drei Monate später zogen sie ein.
Fünf Monate später wählte Südafrika Nelson Mandela als ersten schwarzen Staatspräsidenten.
Fünfeinhalb Monate später wurde der Erythrina Caffra, der Kaffirbaum, in Korallenbaum umbenannt.
Sechs Monate später erhielt Martin von dem höchsten Häuptling einer der nördlichen Provinzen den sensationellen Auftrag, ein Vergnügungszentrum zu entwerfen und zu bauen.
Sechseinhalb Monate später war sie schwanger.
Dann sagte ihr Martin, ganz von allein, ohne dass sie ihn gefragt hatte, dass er das Geld von ihrem Konto genommen hatte, um den Häuptling bestechen zu können.
Sie vergaß Nellys Warnungen, und der Himmel tat sich auf, die Vögel jubilierten, und wenn sie nicht gestorben sind …
Aber so spielt das Leben nun einmal nicht. Es kam anders.
6
E s war an Martins Geburtstag, knapp fünf Wochen nach der Wahl Mandelas, der 31. Mai, an dem der Vertrag für das Vergnügungszentrum unterschrieben werden sollte. Als der Tag heraufzog, war es der schönste, den
Weitere Kostenlose Bücher