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Ein Land, das Himmel heißt

Ein Land, das Himmel heißt

Titel: Ein Land, das Himmel heißt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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Besteck.
    Jill rief Thoko, die mit aufmüpfig vorgeschobener Unterlippe vor ihnen erschien. »Was ist passiert?«
    »Sie ist eine alte Frau«, stieß das junge Mädchen hervor, »sie kennt sich nicht aus, wie es heute ist … Ich hab die Schule mit dem Matrik abgeschlossen. Ich glaube, dass es nicht meine Arbeit sein soll, Fußböden zu schrubben und Betten zu machen.«
    Jill wusste, dass Thoko ihren Abschluss gerade eben geschafft hatte und keineswegs ein Matrik besaß, das sie zum Besuch der Universität berechtigte. Der Standard der ländlichen Schule in Zululand, die nur Schwarze besuchten, lag weit unter dem der städtischen Schulen. Der weißen, städtischen Schulen, berichtigte sie sich selbst. Thoko hatte zwar das Matrik, aber sie sprach nicht einmal korrektes Englisch, geschweige, dass sie es schreiben konnte.
    »Ha!«, funkelte Nelly sie an. »Und welche Arbeit glaubt die Nkosikasi, die große Dame, ist gut genug für sie? Was? Sprich!« Die beiden Frauen standen sich dicht gegenüber, hatten offenbar die Weiße vergessen. Das alte und das moderne Afrika. Nelly mit Kopftuch und knöchellangem Kleid, Thoko mit aufreizend tief ausgeschnittenem Oberteil, im schenkelkurzen, giftgrünen Minirock, der Falten über ihrem ausgeprägten Gesäß warf. Die Haare hatte sie stachelig hochgezwirbelt, und ein neonrosa Lippenstift verfremdete ihr hübsches rundes Gesicht zu einer Fratze. »Seht sie euch an«, rief Nelly aus und zeigte mit einer dramatischen Geste auf die junge Frau, »wie sie aussieht – eine Schande.«
    »Pah!«, fauchte Thoko. »Ich werde einen Job im Büro bekommen, dann fahre ich ein großes Auto, und Nelson Mandela wird mir ein Haus geben.« Sie warf hochmütig den Kopf zurück und stolzierte, auf hohen Hacken balancierend, powackelnd davon.
    Jill sah ihr hilflos nach. Es dämmerte ihr, dass das die Hypothek war, die auf der südafrikanischen Gesellschaft lastete, die Quittung, die den Weißen jetzt für die Apartheidjahre präsentiert werden würde. Wie sollte sie Thoko erklären, dass ihr Matrik nichts wert und der Grund dafür war, dass ihr per Gesetz verwehrt wurde, eine ordentliche Schule zu besuchen? Sie sprach mit ihrer Mutter, die vorschlug, Thoko vorerst auf die Farm zurückzuschicken und es mit einem der anderen jungen Mädchen zu versuchen. Sie befolgte ihren Rat, hörte aber am nächsten Tag von Dabulamanzi, dass Thoko dort nicht angekommen war.
    »Sie wohnt jetzt bei einem Freund«, war alles, was er dazu sagte, doch es war deutlich, dass er sich um seine Nichte sorgte.
    Später entdeckte Jill die junge Schwarze am Busbahnhof in Umhlanga. Fast hätte sie das Mädchen nicht erkannt. Von ihrem Kopf rieselte ein brauner Wasserfall aus künstlichen Zöpfen, grün glitzernde Augenlider, pinkfarbener Lippenstift, Stöckelschuhe mit Plateausohlen und das wie eine zweite Haut sitzende scharlachrote Kleid machten Jill schnell klar, welche Arbeit Thoko jetzt verrichtete.
    »So etwas nennt sich Straßenarbeiterin«, berichtete sie ihrer Mutter besorgt am Telefon, »ein neusüdafrikanischer Euphemismus für Prostituierte. Mein Gott, ich hoffe, sie passt auf. Jede vierte hat schon Aids …« In einem Interview mit Zulu-Wanderarbeitern, das sie kürzlich im Fernsehen gesehen hatte, lehnten alle Männer entrüstet den Gebrauch von Kondomen ab. »Ist doch, als ob ich eine Süßigkeit mit Einwickelpapier esse«, bemerkte einer und machte eine rüde Bewegung, die brüllende Heiterkeit unter seinen Kumpanen hervorrief.
    »Ich rede mit Nelly«, sagte Carlotta, und die regelte darauf die Angelegenheit auf ihre Weise.
    Nelly Dlamini, die Frau des Häuptlings, nahm sich einen Tag frei, fuhr vier Stunden mit dem Bus nach Umhlanga Rocks, marschierte zu der kleinen Stichstraße, wo die Mädchen standen, und wartete, bis ihr Thoko über den Weg lief. Sie schnappte sich das kreischende Mädchen, verprügelte es nach Strich und Faden mit dem Regenschirm, verfrachtete sie gewaltsam in den Bus und lieferte sie vier Stunden später im Umuzi ihrer Mutter ab.
    Kurz darauf brach die Hölle los. Ein nadelspitzes Kreischen zerriss die Stille, und Jill, die ihre Eltern besuchte, fuhr erschrocken zusammen. »Das kommt von den Hütten«, rief sie ihrer Mutter zu, die eben ins Haus ging, und lehnte sich weit über das Terrassengeländer hinaus, um den Weg zu den Arbeiterunterkünften überblicken zu können. Spielzeugkleine Menschen rannten durch das Maisfeld vor den Hütten, eine vorneweg, dicht gefolgt von mehreren

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