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Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)

Titel: Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kofi Annan
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militärischen Niederlage der Taliban waren Vertreter der wichtigsten Sektoren der afghanischen Gesellschaft bereits am Verhandlungstisch versammelt. Unter dem Schirm der Genfer Initiative war zwischen den Anhängern des früheren Königs (Rom-Gruppe genannt) und den Paschtunen und Hasara, die gegen den König eingestellt waren und von Teheran unterstützt wurden (Zypern-Gruppe genannt), ein Dialog über die Zukunft Afghanistans in Gang gekommen. Wie viele diplomatische Initiativen der Vereinten Nationen hatten auch diese Verhandlungen nicht zu einem unmittelbaren Ergebnis geführt. Dennoch waren sie nicht vergebens gewesen – das ist die UN -Diplomatie selten.
    Nachdem ich Brahimi Anfang Oktober erneut zum Sonderbeauftragten für Afghanistan ernannt hatte, bewegte er sich gleichsam auf Zehenspitzen zwischen den vielen Gruppen und Interessen und tat, was in solchen Situationen viel zu selten getan wird: Er hörte allen Seiten aufmerksam zu. Manche bemängelten, wir würden zu langsam vorankommen. Colin Powells Mantra lautete »Tempo, Tempo, Tempo«. Er befürchtete, dass ein Vakuum entstehen könnte, wenn der politische Prozess zu weit hinter die fortgeführte militärische Operation zurückfiel. Mitte November meinte er mir gegenüber sogar, man müsse »Herrn Brahimi Feuer unterm Hintern machen, statt sich auf das Maß an Tatkraft zu verlassen, das er bisher an den Tag gelegt hat«. Bei anderen Gelegenheiten riefen mich die Russen oder die Pakistaner an, um sich darüber zu beschweren, dass sie nicht ausreichend konsultiert würden, oder um irgendeinen Einwand gegen unsere Diplomatie vorzubringen.
    Aber diese Einwürfe verstummten bald. Sobald sich Brahimi genügend beraten hatte – unter anderem mit einem Küchenkabinett aus außenstehenden Experten, mit denen er über die Jahre hinweg in Kontakt geblieben war –, handelte er rasch, um einerseits einen diplomatischen Prozess zu gestalten, der die Führungsrolle der Vereinten Nationen abstützte, und andererseits einen politischen Prozess unter den Afghanen aufzubauen, der ihnen half, ihr Land in eine bessere Zukunft zu führen.
    Über die Art der Nachkriegspräsenz der UNO in Afghanistan wurde viel gestritten. Kosovo und Osttimor waren die jüngsten Blaupausen für UN -Interventionen zur Stabilisierung einer traumatisierten Gesellschaft; dort hatten wir fast die Verantwortlichkeiten einer souveränen Regierung übernommen. Aber in beiden Fällen hatte es sich um kleine Territorien mit einer relativ homogenen Gesellschaft und einer relativ unkomplizierten Sicherheitslage gehandelt, in denen die Bevölkerung eine starke UN -Intervention zur Absicherung des Übergangs in die Unabhängigkeit unterstützte. Unsere Erfahrungen aus diesen Missionen ließen sich jedoch nicht auf Afghanistan übertragen. Wir mussten eine Herangehensweise entwickeln, die auf ein großes, ethnisch vielfältiges, armes und nahezu regierungsloses Land zugeschnitten war, das eine lange Geschichte des Widerstands gegen Fremdherrschaft besaß und weiterhin Kampfgebiet von Auseinandersetzungen zwischen westlichen Truppen und Al-Qaida-Elementen sein würde. Brahimi war sich des tiefsitzenden Hasses der Afghanen auf ausländische Besatzer bewusst und fürchtete, dass eine falsche Strategie den Radikalen in die Hände spielen würde.
    Nach unserer Ansicht konnte die UNO Geburtshelfer einer afghanischen Interimsregierung sein, deren Bildung der erste Schritt in einem vereinbarten Übergangsprozess wäre; so könnte sie den Afghanen auf umsichtige, unaufdringliche Art helfen, von einer extrem niedrigen Ausgangsbasis aus ein besseres Regierungssystem aufzubauen. Afghanistan selbst zu regieren lag nicht in unserer Absicht. All unsere politischen Aktivitäten mussten auf einem echten nationalen Konsens der Afghanen beruhen. UN -Organisationen sollten sich bemühen, Afghanen die Führung beim Wiederaufbau des Landes zu übergeben. Ich sprach von einer »einheimischen« Lösung. Doch den Begriff, der die Herangehensweise der Vereinten Nationen in der Folge charakterisieren sollte, prägte John Renninger, ein hochrangiger Mitarbeiter der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten: »light footprint«.
    Klar war außerdem, dass die Sicherheit die wichtigste Grundlage für den politischen, ökonomischen und sozialen Wiederaufbau nach dem Krieg bildete. Ich war gegen die Entsendung von UN -Friedenstruppen, da es viel zu lange dauern würde, sie zu stationieren. Außerdem müssten sie in einer Umgebung

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