Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
das Abkommen die Möglichkeit offenhielt, der weiteren Entwicklung in Afghanistan entsprechend Kurskorrekturen und Anpassungen vorzunehmen. Außerdem legte es eine Reihe von Schritten fest, die jeweils in einem bestimmten Zeitraum getan werden mussten und so angelegt waren, dass die regierende Körperschaft von Schritt zu Schritt repräsentativer wurde und mehr Legitimität gewann.
Als erstes Ziel sah das Petersberger Abkommen vor, binnen zwei Wochen eine Interimsbehörde unter dem Paschtunen Hamid Karzai zu bilden. Innerhalb eines halben Jahres sollte unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Königs eine Notfall-Loja-Dschirga – eine Stammesversammlung – abgehalten werden, und innerhalb von anderthalb Jahren eine verfassunggebende Loja Dschirga zusammentreten, um eine neue Verfassung für Afghanistan zu beschließen. Zwei Jahre nach der Notfall-Loja-Dschirga sollten dann landesweite Wahlen stattfinden.
Heikel und beunruhigend war die Entscheidung der Afghanen, die Frage der Entwaffnung der Milizen und Warlords aufzuschieben. Aber sie stimmten der Entsendung einer mit einem UN -Mandat ausgestatteten internationalen Schutztruppe nach Kabul zu, mit der Aussicht, deren Mission später auf andere Ballungsgebiete ausdehnen zu können. Außerdem sagten sie zu, aus Kabul und anderen Orten, in denen die Schutztruppe stationiert werden sollte, sämtliche militärischen Kräfte abzuziehen. Trotz des Fait accompli der Eroberung Kabuls willigte die Nordallianz ein, die Hauptstadt zu verlassen und sich an einer multiethnischen Interimsverwaltung unter einem Paschtunen zu beteiligen – freilich nur gegen die Zusicherung einer starken Stellung in dieser Verwaltung.
Trotz seiner Mängel, die wir durchaus sahen, stellte das Abkommen einen bemerkenswerten Erfolg dar, zumal es in solch kurzer Zeit ausgehandelt worden war. Als Brahimi mich anrief, um mir das Endergebnis der Konferenz mitzuteilen, erinnerte ich mich daran, dass ein Außenminister aus der Region mir nur sechs Wochen zuvor prophezeit hatte, jede UN -Konferenz wäre ein »sehr langer Prozess«, und mir riet, meine Zeit nicht zu verschwenden. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich oft gefragt, ob er nicht recht gehabt hatte.
Aber uns allen war bewusst, dass die wirklich schwere Arbeit jetzt erst begann. Im März 2002 beschloss der Sicherheitsrat die Aufstellung einer Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan ( UNAMA ). Im Einklang mit unserer Herangehensweise sollte die Mission, soweit möglich, dem um seine Existenz ringenden afghanischen Staat die Führung überlassen, während einzelne Staaten für die Sicherheit verantwortlich sein und die Afghanen beim Wiederaufbau und der Reform von Streitkräften, Polizei und Justiz sowie beim Kampf gegen den Opiumhandel unterstützen sollten. Unterdessen würde die UNO diskret den politischen Dialog fördern, der notwendig war, um den Übergang stetig voranzubringen, und helfen, Wahlen durchzuführen, eine Verfassung auszuarbeiten und zu beschließen, die Menschenrechte zu schützen und humanitäre Hilfe zu leisten.
Der durch das Schlussdokument der Konferenz vom Dezember 2001 eingeleitete Petersberger Prozess ist ein jüngeres Beispiel für das einzigartige Potential der Vereinten Nationen, unterschiedliche Kräfte zusammenzubringen, für die Nützlichkeit des Büros des UN -Generalsekretärs, vertreten durch einen geschickt operierenden Beauftragten, und für die Wirksamkeit politischen Handelns der Vereinten Nationen, wenn es vom Sicherheitsrat mitgetragen wird. Das Gleiche lässt sich über die erfolgreiche Einberufung der Loja Dschirga ein halbes Jahr später sowie weitere Übergangsschritte sagen, an deren Durchführung die UNO beteiligt war, mit dem Höhepunkt der verfassunggebenden Loja Dschirga im Dezember 2003. All diese Entwicklungen verliefen besser, als man vernünftigerweise hatte hoffen können.
Aber Afghanistan war alles andere als eine ungetrübte Erfolgsgeschichte. Wenn die Petersberger Konferenz das Potential der friedenstiftenden Rolle der Vereinten Nationen gezeigt hatte, dann machten die Realitäten, mit denen wir im Lauf der Zeit sowohl im geopolitischen Kontext als auch vor Ort konfrontiert waren, deren Grenzen deutlich.
Anzeichen dafür waren schon früh zu erkennen. Als ich im Januar 2002 Kabul besuchte und als erster ausländischer Repräsentant das Gebiet des Kabuler Flughafens verließ, war das Wohlwollen gegenüber den Vereinten Nationen fast mit Händen zu greifen, ebenso wie der
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