Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
wider, dessen Prioritätengewichtung deutlich verlagert werden musste, wenn die Vereinten Nationen eine Organisation sein wollten, die wahrhaft denjenigen diente, deren Menschenrechte bedroht waren.
In dieser Debatte wurde das Dilemma, in dem sich die Vereinten Nationen bei Interventionen befanden, offengelegt. Ich musste einen Kurs bestimmen, der den Vorrang des Sicherheitsrats in Fragen von Frieden und Sicherheit unmissverständlich klarstellte, aber auch die Tatsache anerkannte, dass die Vereinten Nationen nie als pazifistische Organisation gedacht waren und dass es Zeiten gab, in denen Gewaltanwendung nicht nur notwendig, sondern auch legitim war. Diese grundlegende Tatsache hatten uns Ruanda und Bosnien nachhaltig vor Augen geführt.
Zwei Wochen später, bei der Eröffnung der Jahresversammlung der UN -Menschenrechtskommission in Genf, begann ich die Parameter dessen zu umreißen, was ich als die »sich herausbildende internationale Norm« gegen die gewaltsame Unterdrückung von Minderheiten bezeichnete; diese Norm sollte Vorrang vor der Sorge um die staatliche Souveränität haben. »Obwohl wir eine Organisation von Mitgliedsstaaten sind«, schloss ich, »sind die Rechte und Ideale, zu deren Schutz die Vereinten Nationen da sind, diejenigen von Völkern.«
Unterdessen zeitigte die militärische Intervention im Kosovo keines der Resultate, welche die NATO -Kommandeure erhofft oder erwartet hatten. Am Anfang der Intervention hatte Solana zu mir gesagt, die Luftangriffe seien eine Sache von drei, vier Tagen, dann sei es vorbei. Miloševi ć sah dies jedoch anders. In der ihm eigenen teuflischen Art hatte er sich offenbar auf diesen Augenblick vorbereitet und intensivierte nun seine Repressions- und Vertreibungskampagne. Nach Schätzung des UNHCR waren bis zum 24. März 1999 250 000 Albaner innerhalb des Kosovo aus ihren Häusern vertrieben worden, und weitere 200 000 hatten in Nachbarländern Zuflucht gesucht. In den folgenden drei Monaten wuchs die Zahl der Flüchtlinge um fast eine Million.
Angesichts dieser humanitären Katastrophe hielt ich es Anfang April für dringend geboten, dass die UNO aktiver in das diplomatische Spiel eingriff. Allerdings hatten die NATO und die Vereinigten Staaten die Aufgabe übernommen, die Forderungen der Weltgemeinschaft durchzusetzen, und insbesondere die USA machten keinen Hehl aus ihrem Wunsch, die UNO – und mich – aus der konkreten Bewältigung des Konflikts herauszuhalten.
Am 9. April appellierte ich an die jugoslawische Regierung, die offensiven Operationen zu beenden und sich aus dem Kosovo zurückzuziehen. Im Gegenzug würde die NATO die Luftangriffe einstellen. Führende europäische Politiker, wie Jacques Chirac und Gerhard Schröder, die immer nervöser wurden, reagierten zustimmend, aber Albright und Clinton nahmen meinen Schritt zurückhaltend auf. In den nächsten sechs Wochen führte ich mit allen Beteiligten intensive Gespräche mit dem Ziel, den diplomatischen Weg neu zu beleben und die Russen ins Team zurückzuholen, um den nötigen Druck auf Miloševi ć ausüben zu können.
Madeleine Albright war von Anfang an dagegen, dass ich eine aktivere Rolle spielte, und sie war es umso mehr, als ich zwei UN -Vermittler ernannte: den Slowaken Eduard Kukan und den Schweden Carl Bildt. Albrights Ablehnung führte zu einem jener sich hinziehenden diplomatischen Ringelspiele, die enden, wo sie begonnen haben, und nur wertvolle Zeit verschwenden, während sich die humanitäre Situation, um die sich eigentlich alles drehen sollte, von Stunde zu Stunde verschlechtert. Inmitten einer Reihe angespannter, fast stündlich stattfindender Verhandlungen mit Albright, dem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Viktor Tschernomyrdin, Chirac und anderen europäischen Politikern erhielt ich einen Anruf von Henry Kissinger. Er war besorgt über die Auswirkungen, die die Luftangriffe auf Serbien möglicherweise auf das Ansehen der Vereinigten Staaten hatten, und konnte es kaum fassen, dass meine Absicht, Bildt zum Vermittler zu ernennen, bei seiner Regierung auf Widerstand stieß. Nach seiner Ansicht war Bildt bei weitem der geeignetste unter den in Betracht gezogenen Kandidaten. Er erbot sich, im Weißen Haus für meinen Vorschlag zu werben, und ich nahm sein Angebot dankbar an. Am Schluss unseres Gesprächs zitierte er Bismarck: »[W]ehe dem Staatsmann, der sich in dieser Zeit nicht nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist.« Und er
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