Ein Leben in Krieg und Frieden (German Edition)
gewisse Fertigkeit in solchen Bittgängen benötigte, und so lernte ich, wie ich fragen, an welchen Fäden ich ziehen, und vor allem, wie ich zuhören und meine Erwiderungen abwägen musste. Auch lernte ich, wen ich fragen musste, denn manchmal ist ein Beamter eher als ein Minister oder sogar der Staatschef in der Lage, Ressourcen bereitzustellen. Dies ist die »soft power« eines Generalsekretärs – die Fähigkeit, andere davon zu überzeugen, dass sein Erfolg in ihrem Interesse liegt.
Die Verleihung des Nobelpreises im Jahr 2001 war in einem kritischen Moment der Geschichte der Vereinten Nationen ein bedeutender Vertrauensbeweis für die Institution und auch für mich, ihren Generalsekretär. Ein knappes Jahr später spaltete der nicht aufzuhaltende Einmarsch in den Irak die Mitgliedsstaaten und stellte die Bedeutung der Vereinten Nationen in Frage. Die Architektur der globalen Ordnungspolitik wurde einer Zerreißprobe unterzogen. Unabhängig davon, welche Ziele die Vereinigten Staaten verfolgten – und welche konkreten Ursachen der Irakkrieg hatte –, war allen klar, dass wir eine neue Sicherheitsvorstellung und ein neues Rollenkonzept der UNO für deren Verwirklichung brauchten. Aus der Krise entstand, wie ich glaubte, eine Gelegenheit – und die dringende Notwendigkeit – für Reformen.
Um den entscheidenden globalen Gefahren unserer Zeit begegnen zu können – dem Terrorismus, aber auch der Armut, dem organisierten Verbrechen, Krankheiten und dem Klimawandel –, mussten Staaten und andere Akteure kooperieren. Ich glaubte damals und glaube immer noch, dass die Vereinten Nationen das beste Forum bieten, auf dem die notwendigen Kompromisse erzielt und konzertierte Aktionen in Gang gesetzt werden können. Das Problem bestand darin, dass die Organisation bald vor Herausforderungen stehen sollte, die den Kern ihrer Mission – und ihrer Glaubwürdigkeit – berührten. Welche Rolle sollte die UNO spielen, wenn die Mächtigsten Gewalt anwandten? Welcher Platz gebührte ihr bei der globalen Machtausübung?
Im UN -Gebäude und bei vielen Mitgliedsstaaten löste der Einmarsch in den Irak Unmut und vor allem Desillusionierung aus. Als Generalsekretär wollte ich den Völkern helfen, sich auf Themen zu konzentrieren, die sie einten, und den Unmut in positive Bahnen lenken, anstatt mitanzusehen, wie er seine spalterische Wirkung entfaltet. Das Jahr 2003 hätte für die Vereinten Nationen leicht ein Jahr des Rückzugs werden können; angesichts des Irakkrieges und des Beginns der Untersuchung über das Öl-für-Lebensmittel-Programm befanden wir uns gewiss in Bedrängnis. Aber ich sagte mir, dass die UNO sich nicht marginalisieren lassen durfte, sondern der Herausforderung – die die Probleme ihrer Struktur, die Bereitschaft ihrer Mitglieder, sie zu unterstützen, und das Grundprinzip einer internationalen Rechtsordnung überhaupt betraf – aktiv entgegentreten musste.
»Exzellenzen«, sagte ich im September 2003 in meiner Rede vor der Generalversammlung, »wir sind an einem Scheideweg angelangt.« Dieser Augenblick ähnele demjenigen der Gründung der Vereinten Nationen, als eine Gruppe weitblickender Staatsmänner Regeln für das internationale Verhalten aufstellte und, mit der UNO im Zentrum, ein Netzwerk von Institutionen schuf, in dem die Völker der Welt für das Allgemeinwohl zusammenarbeiten konnten. Zwei Generationen später müssten wir entscheiden, ob man auf der damals beschlossenen Grundlage fortfahren könne oder ob radikale Veränderungen notwendig seien.
Das Hauptproblem an der Spitze der Machtstruktur der UNO ist die Zusammensetzung des Sicherheitsrats. Heute gehören ihm fünf ständige Mitglieder mit Vetorecht an – die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Russland, Frankreich und China –, deren Auswahl im Wesentlichen auf der geopolitischen Lage am Ende des Zweiten Weltkriegs beruht. Die zehn nichtständigen Mitglieder werden von der Generalversammlung gemäß der geographischen Repräsentanz für jeweils zwei Jahre gewählt. Diese Situation ist für manche untragbar, für die meisten ungerechtfertigt. Japan und Deutschland zahlen den zweit- beziehungsweise drittgrößten Beitrag zum UN -Haushalt, haben aber keinen festen Platz an ihrem wichtigsten Verhandlungstisch. In Indien lebt mehr als ein Sechstel der Weltbevölkerung, und doch hat es keinen Sitz. Und es gibt weder ein ständiges Mitglied aus Afrika noch eins aus Lateinamerika.
Um im 21. Jahrhundert Legitimität zu besitzen, muss
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