Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
halbes Jahr vor Kriegsende. Von diesem Augenblick an hat sich mein Leben verändert. Ich war nie ein Nazi; ich war gegen die Nazis, aber ich tat nichts. Das zweite große Ereignis fand 1989 statt, als sich der Himmel öffnete und die Chance sich ergab, das Land zu vereinigen. Damals war ich nicht mehr im Amt, während meiner Amtszeit habe ich keine wichtigeren Momente erlebt.
LEE Die Wiedervereinigung Deutschlands war ein entscheidender Wendepunkt. Denn viele fürchteten damals ein Wiedererstarken Deutschlands in der Mitte Europas.
SCHMIDT Das hängt zusammen mit einer Gefahr, die von der Lage dieses Landes in der Mitte Europas ausgeht. Der Kampf zwischen Zentrum und Peripherie scheint die Geschichte Europas seit über eintausend Jahren zu bestimmen. War das Zentrum stark, fühlten sich die Völker außerhalb der Mitte von diesem Zentrum bedroht; war das Zentrum schwach, erlagen die Völker an der Peripherie der Versuchung, in die schwache Mitte vorzustoßen. Beides hatte eine tausend Jahre lange Kette von Kriegen zur Folge, am schlimmsten im Dreißigjährigen Krieg. Es gibt wohl keinen anderen Kontinent auf der Welt, in dem so viele Kriege geführt wurden wie in Europa.
LEE Das ist sehr merkwürdig, weil ihr doch alle Christen seid.
SCHMIDT Sehr merkwürdig! Ich stimme Ihnen vollkommen zu. – Gab es in Ihrer Amtszeit Höhepunkte, auf die Sie wirklich stolz sind? Auf die Sie stolz sein sollten?
LEE Dass ich allen das Gefühl gegeben habe, gleich zu sein. Ich habe diesen Ort nicht zu einer chinesischen Stadt gemacht. Ich habe den chinesischen Chauvinisten, die Chinesisch zur vorherrschenden Sprache machen wollten, widerstanden. Ich sagte: Nein, wir werden Englisch nehmen, das für alle eine neutrale Sprache ist. Das half, die Menschen zu einen. Wir diskriminieren niemanden wegen seiner Rasse, Sprache oder Religion.
SCHMIDT Wenn ein Singapurer den öffentlichen Nahverkehr benutzt, in welcher Sprache fragt er dann nach einem Fahrschein?
LEE Auf Englisch.
SCHMIDT Wirklich?
LEE Ja. Die Taxifahrer sprechen englisch. Englisch hat das ganze Land durchdrungen, weil es in den Schulen als erste Sprache gelehrt wird.
SCHMIDT Verstehe ich Sie recht, dass die Durchsetzung des Englischen als Landessprache das Wichtigste für Sie ist?
LEE Oh, ja. Hätten wir den anderen Weg gewählt und uns für vier offizielle Sprachen entschieden, wäre das Volk gespalten worden; es hätte endlose Konflikte gegeben, aber keinen Fortschritt.
SCHMIDT Sind sich die Briten über diese Ihre Leistung im Klaren?
LEE (lacht) Das glaube ich nicht, aber wir hatten Glück, sie als Kolonialherren zu haben. Schauen Sie nach Vietnam. Dort waren die Franzosen, und die Vietnamesen kämpfen noch heute darum, die französische Sprache zu verdrängen und Englisch an ihre Stelle zu setzen, weil die Welt englisch spricht.
MATTHIAS NASS Ist Hongkong dabei, diesen Vorteil zu verspielen? Ich habe den Eindruck, dort spricht man heute weniger englisch als früher.
LEE Das ist richtig, denn Hongkong ist jetzt ein Teil Chinas, und jeden Tag überqueren Zehntausende, vielleicht 100000 oder 200000 die Grenze in beiden Richtungen. Und viele Hongkong-Chinesen haben einen Zweitwohnsitz in China, auf der anderen Seite der Grenze, weil das Leben dort billiger ist. –
Ich greife Ihre Frage auf, Helmut: Auf welchen Höhepunkt Ihrer Amtszeit, auf welche Leistung sind Sie besonders stolz?
SCHMIDT Die Antwort erstaunt Sie möglicherweise. Der wichtigste Moment meiner Laufbahn kam fünf Jahre nach ihrem Ende, 1987, als der Vertrag über die Mittelstreckenwaffen (INF) geschlossen wurde, der eine, wenn auch späte, Rechtfertigung meiner Politik war, die ich 1977 mit einer großen Rede in London eingeleitet hatte.
MATTHIAS NASS Eine Frage an Sie beide: Welches war der bitterste Moment in Ihrem politischen Leben, die größte Niederlage?
LEE Für mich war es der Hinauswurf aus Malaysia, denn wir wären in der Lage gewesen, es zu einem Vielvölkerstaat zu machen, in dem jeder gleiche Rechte gehabt hätte.
SCHMIDT Meine größte Niederlage war der Tod von Hanns-Martin Schleyer.
LEE Der Tod von wem?
SCHMIDT Einem Industriellen namens Schleyer, der sechs oder sieben Wochen als Geisel in der Hand von Terroristen war. Zusätzlich zur Entführung Schleyers entführten sie dann auch noch ein Flugzeug …
LEE Ja, daran erinnere ich mich.
SCHMIDT Und wir befreiten das Flugzeug auf somalischem Boden mit Gewalt. Es endete glücklich, zog aber den Tod der anderen Geisel nach
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