Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
schrittweise abnehmen. Die Frage ist, wer diese Funktion übernehmen wird? Es ist denkbar, dass die europäischen Nationen in gewisser Weise das Erbe antreten werden.
MATTHIAS NASS Aber befindet sich Amerika wirklich im Niedergang? Chinesen, Europäer, alle schicken ihre Kinder zum Studium nach Amerika. Es besitzt die besten Universitäten der Welt.
SCHMIDT Da bin ich mir nicht so sicher. Die Universitäten an der Ostküste, in Chicago und an der Westküste sind erstklassig und gehören sicherlich zu den besten der Welt. Aber dazu gehören auch Cambridge, die London School of Economics, Oxford, die Katholische Universität von Leuven, die Sorbonne in Paris. Es gibt in Europa viele erstklassige Universitäten. Auch in Singapur gibt es heute eine erstklassige Universität. Es findet ein globaler Wettbewerb statt, und es könnte gut sein, dass auch die Araber eine erstklassige Universität aufbauen. Vor 1200 Jahren besaßen sie schon einmal derartige Zentren der Wissenschaft und der Lehre, nämlich Bagdad und Córdoba.
LEE Aber die heutige Sprache ist Englisch, und kein anderes Land besitzt Universitäten, die sich mit den englischsprachigen in Amerika messen können, außer vielleicht Oxford, London und Cambridge. Aber auch sie halten dem Vergleich mit Harvard, Princeton und Yale nicht stand.
SCHMIDT Aber es gibt Fächer, in denen die Sprache eine nachgeordnete Rolle spielt, beispielsweise Musik, Malerei, Architektur.
LEE Das ist wahr. Aber wenn es darum geht, Talente anzuziehen, ist die Sprache entscheidend.
SCHMIDT Ich gebe zu bedenken, dass Sie das Element der Macht in Bezug auf die Zukunft möglicherweise überbewerten.
LEE Was Macht im Sinne von purer Stärke betrifft, wird Amerika in Gestalt von China ein Konkurrent erwachsen, aber was Macht im Sinne der Anziehungskraft auf andere angeht, können die Chinesen aufgrund ihrer Sprache und Kultur nicht gleichziehen. Ihre Kultur ist nicht offen für Ausländer, die amerikanische ist es wohl. Amerika ist ein Land, das von Einwanderern geschaffen wurde, und es heißt neue Einwanderer noch immer willkommen. Früher waren es hauptsächlich Europäer, heute sind es Asiaten, darunter viele Chinesen, Koreaner und Inder. Wenn man sich die amerikanischen Universitäten und Banken anschaut, findet man indische Namen, indische Lehrer, chinesische Namen, chinesische Lehrer, und alle lehren auf Englisch.
SCHMIDT Das stimmt. Andererseits zeichnen sich amerikanische Wissenschaftler in Physik, Geophysik, Astrophysik, Chemie, Mathematik, Computertechnologie und auf vielen anderen Gebieten aus, aber nicht in den Geisteswissenschaften. Die gelten in den Vereinigten Staaten als mehr oder weniger zweitrangig.
LEE Das liegt zum Teil daran, dass Amerika eine junge Nation ist. Um eine große Literatur, große Schriftsteller und Gelehrte hervorzubringen, muss man eine lange historische Tradition haben. Wenn Amerika lange genug existiert, wird es große Leute hervorbringen.
SCHMIDT Gott sei Dank wird es lange existieren. Und deshalb wird es auch mit den großen Leuten lange dauern (er lacht). In der Zwischenzeit kaufen die Amerikaner für ihre Museen Kunstwerke aller Art auf.
LEE Sie konzentrieren sich auf die ökonomische Stärke und setzen sie ein, um Menschen anzuziehen, die wiederum ihre ökonomische Stärke erweitern, ihren Einfluss, ihre Forschung und Entwicklung. Natürlich wollen sie auch Künstler für sich gewinnen, aber noch besitzen sie nicht die Tradition, selbst welche hervorzubringen. Aber eines Tages werden sie sie haben.
SCHMIDT Sprechen Sie jetzt vom 22. oder vom 23. Jahrhundert?
(Beide lachen.)
MATTHIAS NASS Eine letzte Frage an Sie beide. Sie haben über sechzig Jahre lang ihrem Land gedient. Wenn Sie zurückschauen, welchen Rat würden Sie ihren Landsleuten geben, damit sie das Erreichte erhalten und sichern und in der Zukunft prosperieren können?
LEE In einem Zeitalter rascher technologischer Umwälzungen, die den Lebensstil, das soziale Verhalten, die Gesellschaftsstruktur verändern, muss man fähig sein, mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Wenn man sich ihnen widersetzt, wird man zurückfallen, man kann sich nicht statisch verhalten. Vor zwanzig oder dreißig Jahren war es unvorstellbar, dass wir uns hier in Singapur treffen. Es ist ein langer Flug. Aber heute sind Sie hier, greifen zu einem Smartphone und können mit jedermann in Berlin oder Hamburg oder anderswo auf der Welt sprechen. Die Technologie hat aus der Welt ein Dorf gemacht, und das
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