Ein letzter Besuch: Begegnungen mit der Weltmacht China (German Edition)
ob sie die Einheit wollen, ob sie in der Welt Gehör finden wollen.
SCHMIDT Dem kann ich nur zustimmen. Das Problem ist, dass in Europa gegenwärtig keine herausragenden Führer zu finden sind.
LEE Krisen können Führer hervorbringen.
SCHMIDT Das ist wahr. Der Zweite Weltkrieg hat Winston Churchill hervorgebracht.
LEE Meiner Meinung nach ist die Krise noch gar nicht richtig eingetreten, sie wird auch nicht in zwei, drei Jahren eintreten, sondern in zehn oder zwanzig Jahren. Wenn sie dann eintritt, werden sich die Europäer entscheiden müssen: Entweder sie tun sich zusammen, oder sie zählen nicht mit in der Welt der neuen Großmächte. Wenn darüber zu entscheiden sein wird, werden wahrscheinlich auch Führungspersönlichkeiten da sein.
SCHMIDT So lange werden wir beide nicht leben.
LEE Das stimmt. Aber ich denke, die Voraussage lässt sich mit einiger Sicherheit treffen. Falls sie sich nicht bewahrheiten sollte, würde Europa nicht mehr viel zählen, was schade wäre für die Welt. Meiner Meinung nach wird es zu einem Kerneuropa kommen, zunächst bestehend aus den größeren Mächten Deutschland, Frankreich, vielleicht Großbritannien.
SCHMIDT Die Briten werden nicht wirklich Europäer werden.
LEE Ihnen bleibt keine andere Wahl. Früher wollten sie transatlantisch sein. Aber die Amerikaner werden auf Dauer nur ihre Stimme in Europa schätzen.
SCHMIDT Ich glaube, dieser Kampf ist mehr oder weniger entschieden. Die Briten werden – falls sie Schottland verlieren sollten, umso mehr – für Amerika optieren. Übrigens ist in Großbritannien die Entindustrialisierung am weitesten fortgeschritten.
LEE Weil die Briten glauben, der Finanzmarkt sei die Zukunft.
SCHMIDT Ja, aber sie irren sich. Die Zukunft sehen sie auch nicht im Finanzmarkt, sondern in der Finanzspekulation.
LEE (lacht) Wie auch immer, der Prokopfbeitrag von Mitarbeitern der Finanzbranche zum britischen BIP ist fünfmal höher als derjenige eines Industriearbeiters.
SCHMIDT Insgesamt ist der Beitrag des Finanzsektors zum britischen Sozialprodukt rund dreimal so hoch wie in Frankreich oder Deutschland.
LEE Weil Großbritannien zum Finanzzentrum Europas und großer Teile der Welt außerhalb Amerikas geworden ist.
Xi Jinping, der im November 2012 zum Generalsekretär der KP Chinas gewählt wurde, empfängt die Mitglieder des Interaction Council, Peking, Mai 2012.
© imago stock&people, Berlin
SCHMIDT Nebenbei gesagt, werden die Finanzzentren in China auch immer größer – und mächtiger. Und je weiter der Renminbi liberalisiert wird, desto mehr wird diese Macht Fakten schaffen.
LEE Die Chinesen werden sehr vorsichtig sein, was Kapitalzuflüsse in den Renminbi betrifft. Es ist eine Macht, für deren Erhalt sie keinesfalls ihre innere Stabilität riskieren würden. Sobald man ein Kapitalkonto eröffnet, kann Geld ungehindert herein- und hinausströmen. Und das wollen sie nicht.
SCHMIDT Solange sie sich zurückhalten, gibt es das Dreieck der drei großen Währungen nicht wirklich.
LEE Das trifft zu.
MATTHIAS NASS Wird der Kampf zwischen Amerika und China, den Sie für das 21. Jahrhundert voraussagen, mit ökonomischen Mitteln geführt oder als ein politischer und vielleicht sogar militärischer Wettbewerb, als ein Rüstungswettlauf, wie wir ihn im Kalten Krieg erlebt haben?
LEE Es wird zu einem Wettbewerb auf wirtschaftlichem, politischem und diplomatischem Gebiet kommen, auch zu militärischer Rivalität, aber nicht zu einem Rüstungswettlauf. Beide Seiten werden mächtige Streitkräfte unterhalten. Aber beide besitzen Atomwaffen, weshalb sie es nicht auf einen Kampf gegeneinander ankommen lassen werden. Doch sie werden versuchen, mit ökonomischen Mitteln Verbündete im Pazifik zu gewinnen. Wie es ausgeht, hängt davon ab, wer mehr zu bieten hat. Japaner und Südkoreaner werden allerdings immer auf Amerikas Seite stehen, weil sie China zu nah sind und nicht von ihm geschluckt werden wollen. Taiwan wird auf jeden Fall geschluckt werden.
Matthias Nass Was ist mit der »soft power«? Denken Sie, dass China die Welt jemals in ähnlicher Weise faszinieren wird wie Amerika?
LEE Ich glaube nicht. Wir sprachen ja bereits darüber, dass die chinesische Sprache ein unüberwindliches Hindernis ist.
MATTHIAS NASS Amerika wird also das Land unserer Träume bleiben?
SCHMIDT Nein. Amerika wird in geringerem Maße ein Vorbild sein als in den ersten fünfundzwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Modellcharakter der Vereinigten Staaten wird
Weitere Kostenlose Bücher