Ein letzter Brief von dir (German Edition)
schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Antidepressiva machten ihr Angst. Die kleinen blauen Kapseln, die Ma nach Pas Tod geschluckt hatte, hatten aus ihr einen Zombie in Strickjacke gemacht.
Ein Summen aus ihrer Tasche kündigte eine SMS an. Seit seinem «Bin gelandet» um die Mittagszeit hatte sich Marek nicht mehr gemeldet. Sie hatte einen häufigeren Austausch erwartet, aber er musste schließlich arbeiten.
Die Nachricht stammte nicht von Marek.
Hallo, Fremde! Mittagessen? Abendessen? Eine Fahrt zum Mond? Du hast meine Nummer. Wähl sie. Rx
PS : Ich hoffe, du benimmst dich.
Du benimmst dich.
Orla starrte auf den Satz, verletzt und in dem Bewusstsein, dass da jemand von oben herab zu ihr sprach. Wenn ich mich benehme, sagte sie in Gedanken zu Reece, dann bin ich von uns beiden jedenfalls die Einzige. Wo war Reece mit seinem schulmeisterlichen Ton denn gewesen, als Anthea mit Sim unter dem Baldachin in ihrem samtschweren Schlafzimmer gevögelt hatte? Du benimmst dich!
Orla hatte sich ihr ganzes Leben lang benommen.
Reece macht sich Sorgen, dass ich über Anthea herfallen könnte.
Orla blickte auf ihre frisch manikürten Fingernägel hinab und schnappte sich dann ihren Mantel vom Haken neben der Tür. Mit ihrer neuen bissigen inneren Stimme dankte sie Reece für seine anspornende SMS .
Diniere heute Abend mit deiner Klientin / Freundin Ms. Anthea Blake an unserem besonderen Ort.
Gratuliere, wenn du rechtzeitig da bist.
Sie ging davon aus, dass sie in vierzig Minuten in Reeces Club sein konnte.
Dann würde sie ihm den Marsch blasen, dass ihm sein erhobener Zeigefinger in der Luft hängen blieb. Nein, Orla Cassidy benahm sich
nicht
.
Plötzlicher ohrenbetäubender Lärm von draußen ließ sie zurückschrecken.
Orla kannte nur eine einzige Person, die gleichzeitig die Klingel malträtieren und mit dem Türklopfer eine Kerbe ins Holz hämmern würde, und diese befand sich in Dublin. Orla öffnete die Tür einen Spalt und sah ein kleines Stück Straße und ein kleines Stück Juno.
«Überraschung!», sagte Juno gelangweilt, ironisch, und legte den Kopf schief. «Schau nur, wer es nicht ist!»
«Das», sagte Orla und warf ihre Arme um die Besucherin, «macht gar keinen Sinn.» Ihr war ganz schwindelig, und sie kämpfte mit dem Gefühl, auf frischer Tat ertappt worden zu sein. Besorgt fragte sie sich, ob es auf ihrer Kleidung oder in ihren Haaren irgendwelche Hinweise auf die Sünde gab, die sie gerade hatte begehen wollen.
«Hübsch! Der Pony sieht in echt noch besser aus.» Juno nahm sie in Augenschein und entdeckte nichts Verdächtiges. «Schöne Jacke!»
«Komm rein. Komm rein.» Juno war wie ein Dschinn aus dem Nieselregen aufgetaucht, und Orlas gute Manieren brauchten einen Moment, um zu reagieren. «Und willkommen, Juno. Zu lange nicht gesehen. Toll siehst du aus.»
Das tat sie. Nachdem sie kurz versucht hatte, sie wachsen zu lassen, erstrahlten Junos mutig kurzgeschorene Haare in noch leuchtenderem Zinnoberrot, als Orla in Erinnerung hatte, und ihr smaragdgrüner Mantel glomm in dem düsteren Flur.
«Geh mit mir was trinken.» Juno nahm Orlas Hände und wippte ungeduldig in den Knien, wie sie es immer getan hatte, wenn sie Orla zu etwas Ruchlosem hatte überreden wollen, sei es, Mathe zu schwänzen oder Pater Gerrys Soutane anzuzünden. «Komm schon! Wir müssen reden!»
«Wer ist da unten bei dir?» Maudes Stimme tönte von ganz oben herunter, verschlafen, brüchig,
alt
.
«Es ist Juno, Maude. Wir sind in einer Minute oben.»
«Oh, die berühmte Juno!» Maude wurde munter.
«Hallo, Maude!», flötete Juno. «Ich nehme Madame nur kurz mit in das Pub, dann kommen wir nach oben und sagen Hallo!»
«Viel Spaß euch beiden!» Eine Tür schlug zu.
«Also los», sagte Juno schelmisch, sprühend vor guter Laune. «Da ist ein Pub auf der Ecke.»
«Du meinst doch nicht das Rose? Juno, das ist eine Räuberhöhle!»
«Super. Londoner Luft. Komm jetzt!» Wie immer trug Juno den Sieg davon, und sie stolperten zu dem Pub hinüber.
Nachdem sie die schäbige Kneipentür aufgetreten hatte, murmelte Juno: «Ich sehe, was du gemeint hast.» Der Raum war nie renoviert worden, und so konnte er mit geätzten Scheiben, Velourstapeten und einer kunstvoll geschnitzten Bar aufwarten. Aber er war auch nie gereinigt worden, und die Gäste hatten sich dem angepasst. Der Teppich unter ihren Schuhen war klebrig, als sie sich ihren Weg durch Männer mit nach hinten gegelten, viel zu langen Haaren und Raucherhaut
Weitere Kostenlose Bücher