Ein letzter Brief von dir (German Edition)
marschieren. «Ich nehme Whisky mit», hatte Marek versprochen. «In einem Flachmann.»
«Und ich nehme meine Handwärmer mit.» Orla hatte nicht erwähnt, dass sie die auf dem Weg zu Beatrice Gardens gekauft hatte, als sie zum zweiten Mal dort gewesen war. «Wenn wir Händchen halten, wärmen sie uns beide.»
«Wenn?» Marek hatte darauf bestanden, dass sie sich bei jedem der zwölf Glockenschläge küssten, bevor sie nach Hause fuhren.
Während sie sich die Haare föhnte, klammerte sich Orla an die Tatsache, dass er nicht abgesagt hatte. Um neun Uhr würde es an der Tür klingeln. Sie würden die Schwelle zum Jahr 2013 zusammen überschreiten.
Als sie ihr blasses Gesicht bemalte, drängte sich eine Erinnerung zwischen Orla und ihr Kunstwerk. Um dieselbe Zeit letztes Jahr hatte sie ihr Make-up ebenso sorgfältig aufgetragen, nur um es sich später vom Gesicht zu heulen. Sie erstarrte in der Bewegung, erst die Hälfte ihres Amorbogens war nachgezogen.
Der lange Flur in Mas Bungalow, gleich hat Orla das Gästezimmer erreicht. Aus dem Wohnzimmer in ihrem Rücken tönt die Live-Übertragung, in der nun rückwärtsgezählt wird. Ma ruft: «Kommt alle her! Es fängt an!»
Hughs Neugeborenes brüllt – immer noch – in der Küche. Orla wirft ihrem Bruder einen mitleidigen Blick zu, der entnervt mit dem Baby vor der Brust auf dem Linoleum auf und ab tigert. Auf dem Dachboden über ihr wird Fangen gespielt, es klingt wie eine Mäuseplage.
Ma schreit: «Das wievielte Mal war das? Das dritte oder vierte? Wach auf, Aunty Annie, es ist gleich Mitternacht!» Orla steigt über Hughs Älteste, die gerade «Danny Boy» auf ihrer neuen Blockflöte intoniert – «Prima, Niamh!». Orla geht schneller. Sie muss ihre Arme um Sim schlingen, ihre Nase an seinem Nacken vergraben, seine Nähe spüren. Seit ihrer Ankunft waren sie nicht mehr allein, nicht wirklich, und er wirkt wie jemand, der ein Gesprächsbedürfnis hat.
Connor und Martin prallen auf dem Weg vom Dachboden ins Wohnzimmer gegen Orla und lassen sie taumeln. «He, aufpassen, Jungs!» Die Cassidys rennen wie eine Gruppe flüchtender Gnus auf die Glockenschläge zu. Orla ist die Einzige, die sich in die Gegenrichtung bewegt. Der Singsang im Wohnzimmer hat begonnen.
Auch wenn die Tür zum Gästezimmer sich nicht abschließen lässt, muss Orlas und Sims Zölibat aufhören. Sie werden sich lieben. Sie werden Zärtlichkeiten flüstern. Der Leim zwischen ihnen gibt zurzeit ein wenig nach. Orla stolpert über ein Barbie-Auto und hält an, um das pinke Plastikteil aus der Gefahrenzone zu holen und auf ein Regal zu stellen.
Sie muss nur einen Stuhl unter den Türgriff schieben, mit der Hand über seinen Schritt fahren und ein paar ausgewählte Worte in sein Ohr flüstern. Sie werden in dem knarrenden Bett unter den selbstgenähten Laken liegen, bevor Sim weiß, wie ihm geschehen ist.
Deirdre kommt aus dem Klo, umgeben von einer Wolke Coco Mademoiselle. Sie packt Orla bei den Schultern, sagt: «Ach, Schwesterchen!», und küsst sie schmatzend auf die Wangen. «Frohes neues Jahr! Du gehst in die falsche Richtung, Dummkopf. Ist das mein Shirt?»
«Nein», sagt Orla. «Frohes neues Jahr.»
Wenn ich so darüber nachdenke, sinniert Orla vor der Tür, fährt sich durch die Haare und glättet ihren Rock, lassen wir das Bett und nehmen gleich den Fußboden. Das Bett ist laut. Selbst in diesem Tohuwabohu werden Mas katholische Ohren das rhythmische Quietschen der Federn heraushören.
Sie tritt in ein dämmeriges Zimmer (Oh, gut! Die Vorhänge sind schon zugezogen!) und schließt die Tür hinter sich. Der Silvesterlärm klingt plötzlich gedämpft.
Sim ist am Telefon, er spricht schnell, mit gesenktem Kopf, blickt aber Orla an. Er sieht aus, als sei er bei etwas Verbotenem ertappt worden. «Lass uns in London darüber sprechen. Nein, nein, nichts.» Ein künstliches Lachen. «Ja!», sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. «Genau! Ha ha ha!»
Orla lacht nicht. Seit sie von dem Brettspiel aufgestanden ist, lag ein anzügliches Lächeln auf ihrem Gesicht, das nun erlischt.
«Wer ist das?», fragt sie barsch.
Sim hält einen Finger hoch, flüstert «Warte!» und beendet das Telefonat mit den Worten: «Muss aufhören! Ja, ich auch. Tschüs.»
Am Ende des Flurs bricht Jubel aus. Quäkende Babystimmen, Stimmen in den Wechseljahren, bärbeißige männliche Stimmen, ein Gewirr.
«Wer war das?»
«Hört dieses Baby nie auf zu brüllen?»
«Es ist ein
Baby
. Wer war
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