Ein letzter Brief von dir (German Edition)
das?»
Jemand stimmt auf einer Fiedel ein Tänzchen an. Applaus brandet auf.
«Niemand. Was ziehst du für ein Gesicht?»
«Wer war das?» Unbeholfen greift sie nach dem Telefon. Sim, trainiert von den Nahkampfstunden für die «Kurtisane», weicht ihr mühelos aus. Dass er lacht, ärgert Orla nur noch mehr. «Hör auf, Sim, sag’s mir.»
«Das war Reece.» Sim schüttelt ungläubig den Kopf. «Erinnerst du dich? Mein Agent? Der Mann, dem ich meine Karriere verdanke? Ist es in Ordnung, wenn ich mit Reece spreche?»
«Um Mitternacht an Silvester? Das war nicht Reece!» Orla greift erneut nach dem Telefon, und erneut daneben. Sims spöttisches Kichern bringt sie auf die Palme. Sie möchte weinen, tut es aber nicht.
Sie weiß, dass sie nicht miteinander schlafen werden. Sie weiß, Sim wird wie letzte Nacht sagen, dass er in der Höhle von Ma Cassidy nicht kann. Und wenn sie in ihr Cottage zurückkehren, wird er zu müde sein oder schlecht gelaunt.
Es werden weitere Anrufe kommen, und es wird nie wirklich Reece sein. Orla weiß, es ist vorbei, aber sie hat nicht den Mut, es laut auszusprechen.
Orla blinzelte und setzte den Konturenstift neu an. Fertig. Sie drehte den Kopf von rechts nach links, konnte aber nicht einschätzen, wie sie aussah.
Noch eine halbe Stunde bis neun Uhr. Das schwarze Kleid mit dem schwingenden Rock lag um Brust und Oberarme eng an. Sie fühlte sich davon gestützt, elegant. Ihr Haar hatte sie hochgesteckt und konnte spüren, wie es rebellierte. Sie hatte einen Schauer von Haarspray auf ihre Frisur niedergehen lassen müssen. Marek würde bei dem Geruch bestimmt die Nase rümpfen. Orla hoffte, dass sie ihre Haare für ihn heute noch ausschütteln würde.
Ihr Spiegelbild erinnerte ein wenig an eine Beerdigung. Es fehlte etwas. Ob sie das Schicksal herausfordern und das Armband tragen sollte?
Immerhin war sie brav gewesen. Keine Suchanfragen im Internet. Keine spätabendlichen Überwachungsaktionen.
Das debile Piepsen ihres Mobiltelefons ließ sie innehalten, als sie eben danach greifen wollte. Mit bemühter Besonnenheit zog sie es aus ihrer Tasche. Das Display zeigte
Marek
an. Sie fasste es fester, aus Angst, es fallen zu lassen, und drückte so sorgsam auf die grüne Taste, als löse sie damit eine Bombe aus. Sie fühlte sich hundeelend und zugleich bärenstark. «Hallo?»
«Orla, hi», sagte eine nasale weibliche Stimme. «Kannst du mir mal Maude holen? Ich will ihr ein frohes neues Jahr wünschen, sie geht nicht ans Telefon.»
«Bogna? Du benutzt das Telefon deines Bruders», sagte Orla vorwurfsvoll.
«Meins funktioniert hier nicht. Maude? Bitte?»
«Hier? Wo ist
hier
?»
«Chamonix, verdammter Mist», sagte Bogna bitter. «Der doofe Marek hat mich gezwungen, mit ihm in Skiurlaub zu fahren. Ich verpasse die ganzen guten Partys zu Hause. Ich hasse Schnee. Jetzt hol bitte Maude, danke.»
«Maude!», rief Orla, legte das Telefon ab und rannte ins Schlafzimmer. «Ein Anruf für dich!»
Maudes leise Worte drangen gedämpft durch die Tür. «Und dir auch ein frohes neues Jahr, Bogna, Liebes. Was hältst du davon, wollen wir uns für 2013 vornehmen, nicht mehr zu fluchen?» Orla riss sich das Kleid vom Körper. Ohne in den Spiegel zu blicken, rieb sie sich das Make-up vom Gesicht. Vor ihrem inneren Auge sah sie Marek einen weißen Hang hinunterfliegen, frei wie ein Vogel.
Es würde also keine Küsse auf dem Trafalgar Square geben. Er hatte ihre Verabredung nicht für wichtig genug erachtet, um sie abzusagen. Das Ende ihrer Beziehung hatte dafür offenbar genügt.
Albern
! Orla ärgerte sich darüber, dass sein Skiurlaub sich anfühlte wie eine Kränkung. Marek schuldete ihr nichts und konnte tun und lassen, was er wollte.
Und ich kann das auch!
Ein Schatten wie der eines Raubvogels fiel über sie. Orla rubbelte heftig in ihrem Gesicht herum. Sie wusste, was auf sie lauerte.
Die verrückte Vorstellung, Marek zurückzaubern zu können, indem sie brav war, hätte von ihrer abergläubischen Mutter stammen können. Ein neuer Plan tauchte klar und deutlich vor ihr auf.
Der Raubvogel mochte sie packen, aber sie konnte in seinen Klauen noch zappeln.
Maude trat mit dem Telefon in der Hand in den Türrahmen und verfolgte mit undurchdringlichem Gesicht, wie ihre Untermieterin in Turnschuhe schlüpfte und sich einen vielgeliebten handgestrickten Pulli über den Kopf zog.
Orla war in Eile und gab sich mit ihrer Lüge keine Mühe. «Ein paar Leute aus dem College treffen sich in einem
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