Ein letzter Brief von dir (German Edition)
Fahranfänger am Steuer eine halbe Stunde gewartet. «Bei der da alles in Ordnung?», fragte der Mann roh, als sie an einer Ampel hielten. Seinen Akzent konnte Orla nicht einordnen.
«Meiner Freundin geht es gut», log Orla. Sie wusste, er hatte ihre zögerlichen Schritte auf den wenigen Metern von der Haustür zum Bordstein beobachtet. Sie wusste, er hätte sie beinahe nicht mitgenommen.
Das Auto roch nach männlicher Unterwäsche. Maude saß angeschnallt auf dem Rücksitz und hielt die Augen geschlossen. Mit beiden Händen umklammerte sie wie mit kleinen Klauen ihre Handtasche, ihre Fingerspitzen waren von dem Druck schon ganz weiß. Sie hatte kein Wort gesagt, seit sie das Haus verlassen hatten, ihr Wortschwall im Treppenhaus hatte einer eindringlichen Anspannung Platz gemacht, die sich im ganzen Auto ausbreitete.
«Alles klar?», flüsterte Orla. «Wir können auch umkehren.» Alle Gedanken an das Tagebuch wurden nichtig angesichts der schrecklichen Veränderung von Maude, auf die sie sich doch verließ, die sie umsorgte, liebte.
Sie holperten über ein Schlagloch, und Maudes Kopf zitterte auf ihrem dünnen Hals wie eine Christbaumkugel.
«Sie ist krank, oder?» Ein Blick vom Vordersitz traf sie, während das Taxi um eine Ecke rumpelte wie eine entführte Postkutsche.
«Wir kehren nicht um!», presste Maude zwischen den Zähnen hervor. «Wir holen das Tagebuch.»
Der Fahrer sagte: «Kostet extra, wenn sie kotzt.»
Orla lotste ihn durch Primrose Hill und machte sich Sorgen um Maudes Atem. Ihr lautes, zischendes Ringen um Luft klang wie eine Parodie ihrer Yoga-Atmung.
«Wir sind da.» Orla lehnte sich zu dem Fahrer nach vorn. «Könnten Sie an der Laterne dort anhalten?» Sie legte ihre Hand auf Maudes Knie. Ihre Freundin schlotterte. «Wir bleiben einfach noch ein Weilchen sitzen», sagte sie ermutigend zu Maude und richtete sich dann an den Fahrer: «Warten Sie bitte hier auf uns, ja?»
«Gut. Kostet das Doppelte», sagte er. Sein Charme nahm es mit seinen Fahrkünsten auf. «Silvesterpreise.»
Nummer neunundvierzig auf der anderen Straßenseite war mit bunten Lampen geschmückt. Die hilfreicherweise zurückgezogenen Vorhänge ließen das Haus gastfreundlich und festlich aussehen. Lichterketten sorgten für pfirsichfarbenes Licht in dem Raum, in dem gutaussehende, glückliche Menschen eine großartige Zeit zusammen verbrachten und vor Lachen die Köpfe in den Nacken warfen. Vor dem Fenster bog sich ein Tisch unter dem Stillleben eines edlen Buffets. Champagnerflaschen standen bereit, das Knallen ihrer Korken bildete einen Kontrapunkt zu Prokofjew, dessen Musik geschmackvoll und unaufdringlich auf die Straße herausströmte.
Lichtjahre entfernt vom Soundtrack des letzten Jahres, dachte Orla – die aktuelle Boygroup, Volkslieder und Niamhs quietschende neue Flöte.
«Lass mich hier», sagte Maude, die Schlagseite hatte und es offenbar nicht merkte.
Orla legte den Arm um sie und richtete sie auf. Es war kaum zu glauben, dass sie wirklich hier waren, dass Maude sich das antat. Sie verfluchte sich dafür, dass sie sich darauf eingelassen hatte. Sie hätte sich gegen Maude durchsetzen müssen. Da war sie wieder, die späte Einsicht, ihre selbstgefällige Dauerbegleiterin.
Ein Taxi spuckte weitere Gäste aus. Die Tür wurde von einem Mann geöffnet, dessen Name am Rande von Orlas Bewusstsein aufflackerte. Er hatte ein offenes, fleischiges Gesicht mit einer großen, wohlgeformten Nase. Tom Best! Das war es. Antheas Partner in ihrem nächsten Stück, der Macbeth. Grüße und Komplimente wehten mit der eisigen Luft über die Straße. Er hatte Sims Rolle übernommen: Wäre Sim nicht gestorben, würde er sich jetzt für seine Geliebte um die ankommenden Gäste kümmern. Die Tür schloss sich, damit die Hitze im Haus blieb, damit das Leben im Haus blieb.
Maudes Oberkörper streckte sich, als versuche sie, über ihre Atemzüge hinauszuwachsen, sie zu zähmen. «Geh und hol das Tagebuch», krächzte sie.
«Ich lasse dich nicht allein, Maudie.» Orla löste eine ihrer Hände von der Handtasche und hielt sie fest. Sie zuckte zusammen, als sich Maudes Hand wie eine Schraubzwinge um ihre krallte.
Der Fahrer sank feindselig in seinen Sitz zurück. «Sie sieht nicht gut aus», sagte er.
Neuankömmlinge erklommen die Stufen, und dieses Mal öffnete die Gastgeberin persönlich in einem bodenlangen Kleid aus grünem Samt. Selbst auf die Entfernung hin wusste Orla, dass Anthea wunderbar duftete, als sie nun das
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