Ein letzter Brief von dir (German Edition)
zu versagen. Aber das Tagebuch war Orla wirklich wichtig. Ja, sie hatte ihn dafür geneckt, dass er es so gewissenhaft geführt hatte (eine Gewissenhaftigkeit, die er in anderen Bereichen seines Lebens keinesfalls an den Tag gelegt hatte), aber jetzt hoffte sie, es würde ihr Erklärungen liefern. Mit ihr sprechen.
«Ja, ist gut.» Lucy hatte sich schon abgewandt. «Du kannst es behalten.»
Sims Tagebuch
14 . Oktober 2011
Ryanair Flug FR 112
In der Luft
Ich beobachte, wie sie kleiner und kleiner wird, während ich durch das Abflug-Gate gehe, und ich spüre eine winterliche Traurigkeit in mir. Es ist genau das Gefühl, das ich hatte, wenn mich die Alten im Herbst zur Schule zurückbrachten.
Wie kann eine so weiche Frau so HART sein? Sie sollte an meiner Seite sein. Sie könnte doch freinehmen, wenn sie wollte. Wie ich ihr schon gesagt habe: Sie ist doch nur eine Grundschullehrerin.
Konzentrier dich, Simon. Simeon. Ich muss mich konzentrieren, aber niemand berührt mich so wie O. Ich vermisse es jetzt schon, dass sie zu allem und jedem eine Meinung hat. Und ich sitze erst in diesem verdammten Flugzeug!
Kapitel vier
E s half, in Bewegung zu bleiben. Den Koffer zu packen, zum Abflug-Gate zu rennen, die Wolken vom Flugzeugfenster aus zu beobachten – all das half, das Ziehen in Orlas Brust erträglicher zu machen. Sie hatte die Valentinskarte sorgfältig zwischen die Seiten einer W.-B.-Yeats-Anthologie gesteckt, die Sim ihr an ihrem ersten gemeinsamen Weihnachten geschenkt hatte. Die Karte unternahm mit ihr die letzte Reise ihres Absenders. Das war ein merkwürdiger Trost. Orla schätzte inzwischen auch merkwürdigen Trost.
Sie stieg aus dem Taxi und schaute zur Sicherheit noch einmal auf den Zettel mit der Adresse.
«Herrjemine», flüsterte sie. «Wirklich, Sim?»
Ich liebe diese Wohnung!
, hatte er in seinen E-Mails und am Telefon geschwärmt.
Sie passt perfekt zu mir!
Wenn das so war, musste der Londoner Sim ein vollkommen anderer sein als der, den sie kannte. Orla hatte etwas Schickes erwartet, etwas Dekadentes, aber ganz sicher nicht dieses dreistöckige, rußgeschwärzte Backsteingebäude, das zwischen einer Eisenbahnbrücke und einem 24 -Stunden-Mini-Mart gequetscht stand. Der Dubliner Sim hätte nur einen kurzen Blick darauf geworfen und wäre sofort in das nächste Fünf-Sterne-Hotel geflohen. Diese Gegend hier machte ihn zu einem Fremden – und das, wo sie gehofft hatte, noch ein letztes Mal seine Nähe spüren zu können.
Eine U-Bahn fuhr über die Brücke und brachte das Schild von «Maude’s Books» über dem Geschäft im Erdgeschoss zum Schwingen. Jemand winkte wild durch das Schaufenster, als ob er kurz vorm Ertrinken wäre.
Orla zog den Rollkoffer hinter sich her wie einen störrischen Hund. Sie ging an einem behelmten Mann vorbei, der die Gehwegplatten mit einem Presslufthammer bearbeitete, und schlängelte sich durch das Gedränge. Vor dem Mini-Mart zuckte sie zusammen, als ein Obdachloser, der im Eingang saß und eine Büchse Bier in sich hineinkippte, plötzlich ein rasselndes Husten von sich gab.
Die Ladbroke Grove ist das echte London, sehr kosmopolitisch.
Sims Erzählungen hatten Art-déco-Cocktailbars heraufbeschworen, keine mit Neonröhren beleuchtete Bruchbuden, wo man um drei Uhr morgens Chips kaufen konnte.
Die Türglocke von Maude’s Books läutete, als Orla eintrat. Der Laden strahlte Ruhe aus, obwohl er an einer stark befahrenen Straße lag. Bücher standen in schwankenden Stapeln im Schaufenster und in weißen Regalen, die an nackten Ziegelwänden aufgebaut waren, auf dem zerschlissenen Sofa lagen sie nachlässig geöffnet herum. Gebundene Bücher, Taschenbücher, riesige Kunstbände, dünne, abwaschbare Kinderbücher, neue Bücher, alte Bücher, zerlesene und abgeliebte Bücher türmten sich auf den gebohnerten Fußbodendielen.
Mittendrin stand eine energische Frau mit einem riesigen weißen Dutt und einem Lächeln, das ihre Augen zu lebhaften Halbmonden verengte.
«Maude?», fragte Orla.
«Und du bist bestimmt Sims Orla! Ganz das irische Mädchen, das er mir beschrieben hat!»
Ältere Frauen aus Orlas Bekanntenkreis bekreuzigten sich meist und murmelten: «Herr, erbarme dich seiner Seele», sobald Sims Name fiel. Es war gleichzeitig ungeheuerlich und erleichternd, dass Maude einfach mit Hochdruck drauflosplapperte, ohne auch nur ihr Beileid auszusprechen.
«Jetzt sieh dich doch mal an mit deinem schwarzen Haar und den grünen Augen. Du bist doch
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