Ein letzter Brief von dir (German Edition)
möchtest jetzt wohl allein sein, Liebes. Na ja, allein mit Sims Sachen.» Sie stand auf, ging zur Tür hinüber und nickte ihr zu. «Na, dann komm. Ich führe dich hinunter zu seiner Wohnung.»
«Aber … oh.»
«Ich mochte das Dachgeschoss so sehr, dass ich es behalten habe.» Maude drückte die Tür der Wohnung im mittleren Stockwerk auf, das zwischen dem Laden und der Mansarde lag. «Ich fühle mich da oben so skandinavisch, wenn ich durch weiße Räume ohne jeden Krimskrams gehe. Wohingegen
diese
Wohnung …»
Sie trat einen Schritt zurück, um Orla hineinzulassen.
Die Tür öffnete sich direkt in ein Wohnzimmer, das sich die gesamte Front des Hauses entlangzog. Kinkerlitzchen. Krimskrams. Nippes. Bücherregale und Tische, auf denen Lampen und Glasfigürchen und Schnupftabakdöschen standen. Gemälde von rehäugigen Damen und schneidigen Herren.
Man konnte sich Sim nur schwer in diesem Alte-Damen-Universum vorstellen.
Zwei Schiebefenster gaben den Blick auf das obere Stockwerk eines vorbeifahrenden Doppeldeckerbusses frei. Orla ging um die Ecke des L-förmigen Zimmers in eine Art Küche, die sich im kürzeren Bein des L befand.
«Sim hatte die Vorhänge
immer
zugezogen.» Maude hantierte mit ihren winzigen Händen an den moosgrünen Vorhängen herum und ließ ein wenig Februarsonne durch die Spitzengardinen.
«Das Schlafzimmer liegt hinten.» Sie zeigte auf eine Tür am anderen Ende der geradezu herausfordernd ungenutzt aussehenden Küche. «Das Bad ist neben dem Schlafzimmer. Die Wohnung braucht ein paar Streicheleinheiten. Ich war nicht mehr hier drin seit … na ja, seit er gestorben ist», brachte Maude heraus. «Tut mir leid, Liebes, ich kann einfach nicht sagen, dass er verschieden ist oder von uns gegangen oder, Himmel hilf, nur schläft. Der arme alte Simeon ist tot, und wir müssen, so gut es geht, damit fertigwerden.» Maude legte den Kopf schief und sah Orla prüfend an, die die Schultern hängenließ. «Habe ich dich damit verletzt?»
«Kein bisschen. Ich bin auch kein Fan von diesen Beschönigungen. Es ist nur», Orla atmete schwer, als ob ein Daumen auf ihren Kehlkopf drückte, «ich müsste jetzt ein wenig allein sein, wenn das in Ordnung ist.»
«Und ob das in Ordnung ist, Mädchen!» Maude schien gerührt zu sein. Sie fasste Orla zum Abschied liebevoll ans Kinn und verließ dann die Wohnung. Die Tür schloss sich mit einem aufdringlichen Quietschen hinter ihr.
Orla wartete vergeblich darauf, dass Stille eintrat, damit sie sich auf den Raum einlassen konnte, in dem Sim seine letzten Monate verbracht hatte. Aber der Verkehr rumpelte vor dem Fenster vorbei, eine Alarmanlage piepte, und der Obdachlose sang lallend vor sich hin. Orla ging ins Schlafzimmer, ließ sich aufs Bett sinken und legte ihr Gesicht auf das Kopfkissen. Aber das lang ersehnte Gefühl der Verbundenheit wollte sich einfach nicht einstellen. Das Kissen roch nicht nach Sim, sondern nach Weichspüler. Orla weinte eine einzige Träne und schluckte schwer.
Das Tagebuch würde ihn sicher zurückbringen. Auf seinen Seiten würde sie sich erneut mit ihm vertraut machen. Sein Tagebuch würde ihr alle Geheimnisse verraten, die Sim lieber für sich behalten hätte. Und wenn sie es gelesen haben würde, würde sie sich stark genug fühlen, um die Valentinskarte zu öffnen.
Sims Tagebuch
17 . Oktober 2011
Die Vermieterin ist ein kauziger alter Vogel. Geschliffener Akzent. Winzig. Diffuse blaue Augen, die blitzartig ganz klar werden können.
Die Straße ist schmuddelig. Authentisch! In Dublin fände ich sie schrecklich, aber London hat nun mal seine eigenen Regeln.
Treffen mit Reece heute. Prima Typ. Großartiger Agent. Von dem Augenblick an, als er mich letztes Jahr aufnahm, wusste ich, dass ein Londoner Agent viel größere Träume wahr werden lassen kann als ein Dubliner. «Sei bereit», hat er gesagt, «du wirst ein Star.»
JAAAAAAAA !
Aber auch UUUUUUHHHH !
Es gibt NIEMANDEN , dem ich meinen FURCHTBAR SCHLIMMEN SCHISS gestehen kann, außer meiner Fee. Ich hab’s gerade bei ihr versucht, aber sie nimmt nicht ab.
Okay. Genug der Nabelschau. Was soll ich anziehen? Reece stellt mir heute meine Filmpartnerin bei einem Abendessen in seinem Club vor. Du bist also der berüchtigte männermordende Vamp Miss Anthea Blake? Du magst deine Männer jung, nicht wahr?
Meinen Dolce-&-Gabbana-Anzug, schätze ich.
«Was?» Reeces Stimme klang überrascht, als hätte sie ihn auf dem falschen Fuß erwischt. «Du bist schon hier?
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