Ein letzter Brief von dir (German Edition)
aus.
«Lass uns nach Hause gehen», sagte Maude kraftlos.
Sims Tagebuch
1 . Januar 2012
Dies wird mein bislang bestes Jahr werden!
Kapitel vierunddreißig
I
ch wiederhole:
Kein Tagebuch.
Keine Ahnung, für wen mich Sim verlassen hat.
Kein Marek.
Von ihrem Stuhl am Fußende von Maudes Bett aus sah Orla die erste Sonne des Jahres 2013 aufgehen.
Seltsam, wie eine schlaflose Nacht dafür sorgen kann, dass auf einmal die finstersten Winkel des eigenen Hirns ausgeleuchtet werden. Plötzlich steht die Wahrheit im Scheinwerferlicht. Und von den drei Dingen, die Orla fehlten, war der dritte Punkt der folgenschwerste.
Und ich bin ganz allein schuld daran, dass ich Marek verloren habe.
Die schmale Gestalt im Bett bewegte sich, schluckte, drehte sich, wachte aber nicht auf. Vor ein paar Stunden hatte Orla einer kraftlosen Ausziehpuppe die Treppe hinaufgeholfen. Dann hatte sie sich zu ihr gesetzt, um ihre Atemzüge im Schlaf zu überwachen, nur für den Fall, dass sie aussetzten.
Das hatten sie nicht getan. Maude hatte gut geschlafen, solange Orla bei ihr gewacht hatte. Und nun erwachte um sie herum auch London.
Wieder auf den Beinen, wurde Maude ihren eigenen hohen Ansprüchen an ein gepflegtes Äußeres gerecht. Ihre Stimme und ihr Körper wirkten wieder rüstig, besaßen neue Kraft. Ihre aufrechte Haltung und ihre Bewegungen schienen sagen zu wollen:
Es braucht mehr als ein scheußliches Trauma, um mich zur Strecke zu bringen
.
Emotional gab es jedoch eine merkliche Veränderung. Es war eine stillere Maude, die da in ihrem Königreich herumtapste, eine, die an ihre Schwäche erinnert worden war. Orla bemerkte immer wieder ihren nach innen gerichteten Blick und hatte dann Mühe, sie in die Gegenwart zurückzuholen.
Dafür gab sich Orla in vollem Umfang die Schuld.
Für sie selbst waren die Nachwirkungen von Silvester noch dramatischer. Es war, als hätte ein unbekümmerter Riese das Dach von ihrem klaustrophobischen Puppenhaus gerissen und es mit Licht geflutet.
Orla hatte bezüglich Anthea einen Riesenfehler gemacht, aber sie hatte aus Primrose Hill auch etwas mitgenommen. Sie hatte gelernt, dass Anthea eine Frau war, und nur eine Frau, bei all ihrer Berühmtheit.
Und sie hatte gelernt, dass Sim, hätte er nur einen weiteren Tag gelebt, nicht zu Orla zurückgekehrt wäre. Denn Orla hätte ihn nicht darum gebeten. Die Weisen hatten recht, wenn sie davor warnten, Menschen auf ein Podest zu stellen. Sim war an ihrem letzten sexlosen, spaßbefreiten Silvester ein Gigant auf tönernen Füßen gewesen. Er hatte eine Atmosphäre septischer Langeweile mit sich von Zimmer zu Zimmer geschleppt.
Und dieser Anruf.
Ihr Leben seitdem war um diesen Anruf gekreist. Ihr Liebesleben würde vermutlich anders aussehen, wenn sie damals entschieden ihrem Instinkt gefolgt wäre und die Beziehung entweder beendet hätte oder aber nach London gefahren wäre, um ihren Anspruch auf ihn zu erneuern.
Stattdessen hatte sich Orla die Finger in die Ohren gesteckt und mit ihrem hinterwäldlerischen Leben weitergemacht.
Ich habe ihn noch angespornt
. Einige Beobachter würden vielleicht sogar einwenden, Orla habe Sim vermittelt, dass sie ihn nicht liebte, lange bevor er den Stift auf die rosa Karte gesetzt hatte.
Sims plötzlicher Tod hatte eine Lücke gerissen, die größer war als Sim selbst. Das Ausmaß von Orlas Verlust hatte alles verdreht, ihren bösen Verdacht undenkbar, sogar frevelhaft gemacht. Also hatte sie ihre Ahnungen unter den Teppich gekehrt, wo sie vor sich hin faulten.
Während sich Orla um Maude kümmerte – ganz diskret, denn Maude legte keinen Wert darauf, dass man sich um sie kümmerte –, verglich sie sich mit ihr. Unter akutem Stress hatten beide Frauen ihrem Unterbewusstsein die Zügel in die Hand gegeben. Negative Gedanken waren an die Oberfläche geschwemmt worden, hatten sich gedreht und ineinander verschlungen, bis beide sich eine alternative Wirklichkeit geschaffen hatten. In ihren Spiegelwelten hatte das Absurde ganz naheliegend ausgesehen. Verschanze ich mich im Haus?
Hervorragende Idee!
Stalke ich eine Schauspielerin?
Ja, natürlich!
Liebe würde Maude wieder auf die Beine und zur Tür hinaushelfen, bis nach vorne an die Ecke und, mit der Zeit, noch weiter.
Und Orla würde die Liebe nicht verlorengeben. Es mussten Gespräche geführt werden.
«Cassidy, guten Abend?»
«Ich bin’s, Ma, du kannst deine Telefonstimme abstellen.»
«Mäuschen! Was für eine schöne Überraschung. Ich
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