Ein letzter Brief von dir (German Edition)
einer Linse ein Harem der Träume, in Wahrheit ein großes Durcheinander. Haarteile hingen wie totgefahrene Tiere an der Schranktür. Eine geöffnete Diät-Tütensuppe lag auf dem Teppich, der staubige Inhalt war in den Flor gerieselt – ein lebhafter Kontrast zu dem Festmahl unten. Kleider, einige von ihnen noch mit Preisschild, lagen wie Aale bei der Paarung auf dem Boden herum. Orla erkannte die Verwüstungen einer Kleiderkrise. Und wer, dachte sie, hat eine Waage mitten auf einem sündhaft teuren Teppich stehen?
Anthea. Dieses Zimmer verriet viel über sie und war für eine Stalkerin ein gefundenes Fressen. Warum also empfand Orla nichts? Keine Neugierde, keine Befriedigung?
Ich beende das hier, so schnell ich kann, schnappe mir das Tagebuch, packe Maude ein und raus.
Anthea kam wieder zurück. Sie wirkte ein wenig nüchterner. Nachdem sie auch ihren anderen Schuh ausgezogen hatte, stand sie auf einem Haufen Kekskrümel und sagte: «So. Erklär dich. Und dann rufe ich die Polizei.»
Die Drohung mit der Polizei ließ Orla kalt. Sie verspeiste Worst-Case-Szenarien zum Frühstück. Trotzdem machte sie Antheas grimmiger Blick nervös. «Okay.» Der Schminktisch lenkte sie kurzfristig ab. Das Arsenal an Wundercremes durfte locker einem Gegenwert von mehreren hundert Euro entsprechen. Orla blätterte bei Anzeigen, die absurde Anti-Aging-Versprechen machten, sofort weiter, aber Anthea kaufte offenbar jedes Quacksalberprodukt, das auf dem Markt erhältlich war. Orla sammelte ihre Gedanken und ärgerte sich über ihr Mitleid mit Antheas verzweifelter Leichtgläubigkeit. Es war nicht die Zeit,
Verständnis
für die Frau zu haben.
«Ich wollte dich nicht erschrecken, Anthea. Ich dachte, ich sei diskret.»
«Hundert Punkte für den Kandidaten», schnaubte Anthea. Ohne ihre Schuhe war sie winzig. «Mein Nachbar hat mir von der Verrückten in seiner Hecke erzählt.»
«Oh Gott», stöhnte Orla. Nun wurde ihr schmutziges Geheimnis von Hand zu Hand gereicht. «Es tut mir leid», sagte sie kläglich. Die Situation entwickelte sich ungut. Wer entschuldigt sich bei der Schlampe, die einem den Freund ausgespannt hat? «Als ich das von dir und Sim erfahren habe, bin ich ein bisschen durchgedreht.»
Anthea zog ein Haarteil hinten aus ihrer rostroten Mähne. «Himmel, das juckt.» Sie warf es auf den Boden. «Gibt sie jetzt den Geist auf da drüben?» Anthea wies mit dem Kinn auf Maude und kratzte sich wie wahnsinnig die Kopfhaut. Sie sah aus wie eine gut angezogene Irre.
«Sie hat einen Namen. Maude wird es gutgehen, sobald ich sie nach Hause gebracht habe.»
«Was meinst du damit, du hast von mir und Sim erfahren?»
«Er hat es mir erzählt.»
«Was?» Antheas Fassungslosigkeit ließ sie etwas debil aussehen. «Das hätte er nicht getan. Außer, er war ein kompletter Idiot. Was er, wenn ich so darüber nachdenke, war, also …» Anthea warf die Arme in die Luft. «Was soll ich sagen, Kind? Willkommen im echten Leben. Ich gehe mit meinen Hauptdarstellern immer ins Bett. Es erleichtert den Dreh.»
«Du hast ihn mir weggenommen.»
Sie brachte die Plattitüde mit zittriger Stimme hervor. Um Mut zu tanken, umfasste Orla Maudes Hand fester. Maude hatte sich auf die Ellenbogen hochgerappelt.
Mach schnell. Bring Maude nach Hause
.
«Ich möchte eine Entschuldigung, aber ich sehe, dass ich damit nicht rechnen kann. Also gib mir einfach das Tagebuch, Anthea. Ich gehe nicht, solange ich es nicht habe.»
Der schwache Druck von Maudes Fingern fühlte sich an wie eine stehende Ovation.
«Du sprichst in Rätseln. Sim hat schon gesagt, dass du exzentrisch bist.» Anthea hockte mit gegrätschten Beinen vornübergebeugt auf ihrem Schminktisch-Schemel. Es war keine vorteilhafte Position für eine Frau im bodenlangen Kleid. «Ich kann mich entschuldigen, wenn es das ist, was du willst. Ich verstehe, wie es für dich aussieht, aber mit dem Filmpartner zu vögeln bedeutet einfach ein bisschen Spaß. Eine klare Sache, und niemand bekommt Flausen in den Kopf. Sim jedenfalls hatte die nicht.»
«Als er gestorben ist, hat er dich geliebt. Das stand in seiner Karte. Ich weiß, dass er mich für dich verlassen hat, Anthea, also hör auf, mir etwas vorzuspielen.»
Orlas Magen hob sich, aber sie brach nicht zusammen oder weinte: Die Wahrheit war nicht mehr überlebensgroß.
Anthea verschränkte ihre knochigen Arme. «Jetzt hör mal zu, Tinkerbell. Sim hat mich
nicht
geliebt, als er gestorben ist. Ich bin ihm sogar ziemlich auf den Keks
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