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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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liebst, kann sein Herz an einen anderen verlieren. Ja, Liddy könnte wieder eine Fehlgeburt haben. Aber was wären denn die Alternativen? Dass das Kind die nächsten ein, zwei Jahrzehnte in einer Gefriertruhe verbringt? Dass es zwei Mütter bekommt, die in Sünde leben?
    Reid schaut Liddy mit so viel Hoffnung in den Augen an, dass ich mich verlegen abwende. »Und was, wenn du es nicht verlierst?«, sagt er.
    Plötzlich stehe ich vor dem Fenster und schaue hinein, ich bin ein Spanner, ein Beobachter, ich spiele nicht mehr mit.
    Aber das Baby … Das Kind wird nicht draußen stehen.
    An diesem Abend stehe ich gerade im Gästebad und putze mir die Zähne, als plötzlich Reid in der Türe steht. »Du kannst deine Meinung immer noch ändern«, sagt er, und ich tue erst gar nicht so, als wüsste ich nicht, wovon er spricht.
    Ich spucke die Zahnpasta aus und wische mir den Mund ab. »Das werde ich aber nicht.«
    Verlegen tritt Reid von einem Fuß auf den anderen. Die Hände hat er in die Hosentaschen gesteckt. Er ähnelt kaum noch dem Mann, den ich kenne – dem Mann, der immer alles unter Kontrolle hat und dessen Charme nur noch von seinem Verstand übertroffen wird. Voller Schrecken erkenne ich, dass ich bei Reid, dem goldenen Jungen, dem scheinbar alles auf Anhieb gelingt, das eine gefunden habe, was er nicht kann:
    Dankbarkeit zeigen.
    Er würde Ihnen sein letztes Hemd geben, aber wenn es darum geht, selbst einmal etwas anzunehmen, dann ist er verloren.
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gibt Reid zu.
    Als wir klein waren, hat Reid eine Geheimsprache erfunden und sogar eine Vokabelliste dazu verfasst. Anschließend hat er sie mir beigebracht. Beim Abendessen hat er dann gesagt, Mumu rabba wollabang , und ich habe laut gelacht. Und meine Eltern schauten einander verwirrt an, denn sie wussten nicht, dass Reid gerade gesagt hatte, der Hackbraten rieche wie ein Affenhintern. Dass wir jenseits der Möglichkeiten normaler Konversation miteinander kommunizieren konnten, hat meine Eltern wahnsinnig gemacht.
    »Du musst nichts sagen«, erkläre ich. »Ich weiß schon.«
    Reid nickt und umarmt mich. Er kämpft mit den Tränen. Das höre ich an seiner Atmung. »Ich liebe dich, kleiner Bruder«, flüstert er.
    Ich schließe die Augen. Ich glaube an dich. Ich bete für dich. Ich will dir helfen. Reid hat im Laufe der Jahre viele Dinge zu mir gesagt, aber erst jetzt wird mir klar, wie lange ich auf diese Worte gewartet habe.
    »Auch das weiß ich schon«, erwidere ich.
    Mrs. O’Connor hat Donuts gemacht. Sie macht sie auf die altmodische Art, frittiert sie und streut ein wenig Zucker darauf. Ich suche immer nach ihrem Namen auf dem Schwarzen Brett der Gemeinde, um zu sehen, wann sie zum Kaffee nach dem Gottesdienst eine ihrer Leckereien mitbringt. Dann kann man darauf wetten, dass ich als Erster aus dem Gebetssaal bin, um mir noch vor den Kindern aus der Sonntagsschule einen Teller zu sichern.
    Ich packe mir gerade eben so einen Teller voll, als ich hinter mir die Stimme von Pastor Clive höre. »Max«, sagt er, »ich hätte wissen müssen, dass ich dich hier finde.«
    Ich drehe mich um, einen Donut habe ich schon in den Mund gestopft. Pastor Clive steht neben einem Neuling – oder zumindest nehme ich an, dass er ein Neuling ist. Er ist größer als Pastor Clive und hat pomadiges schwarzes Haar. Seine Krawatte ist von derselben Farbe wie sein Einstecktuch: Lachsrot. Und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so weiße Zähne gesehen.
    »Ah«, sagt der Mann und bietet mir die Hand an. »Das ist also der berüchtigte Max Baxter.«
    Berüchtigt? Was habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?
    »Max«, sagt Pastor Clive, »das ist Wade Preston. Vielleicht kennst du ihn ja aus dem Fernsehen.«
    Ich schüttele den Kopf. »Tut mir leid.«
    Wade lacht laut und herzhaft. »Ich sollte wohl mal was an meiner PR ändern! Ich bin ein alter Freund von Clive. Wir waren zusammen im Seminar.«
    Er hat einen Südstaatenakzent, sodass er klingt, als rede er unter Wasser. »Sie sind also auch Pastor, ja?«, frage ich.
    »Ich bin Anwalt und ein guter Christ«, antwortet Wade. »Auch wenn das ein Widerspruch zu sein scheint.«
    »Wade ist viel zu bescheiden«, erklärt Pastor Clive. »Er ist eine der bedeutendsten Stimmen für das ungeborene Leben in unserem Land. Er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Rechte des ungeborenen Lebens durchzusetzen und sie zu verteidigen. Er ist sehr an deinem Fall interessiert, Max.«
    An was für einem

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