Ein Lied für meine Tochter
mir, aber ich bin froh, dass sie blind ist. Sie sieht wenigstens nicht, dass mir mein Verlust ins Gesicht geschrieben steht, und so muss ich auch kein peinliches Schweigen überbrücken wie bei der Krankenschwester am Empfang, die nicht wusste, wie sie mir ihr Beileid ausdrücken sollte. Serena hat noch nicht einmal gewusst, dass ich schwanger war. Deshalb gibt es auch keinen Grund, warum sie wissen sollte, dass mein Baby gestorben ist.
»Wo warst du?«, fragt sie.
»Krank«, antworte ich, ziehe mir einen Stuhl heran und nehme die Gitarre auf den Schoß. Ich beginne, sie zu stimmen, und Serena greift nach ihrem eigenen Instrument. »Was hast du so gemacht?«, frage ich.
»Das Übliche«, sagt Serena. Ihr Gesicht ist mit Verbänden umwickelt. Ihre Haut ist seit der letzten Operation noch nicht verheilt. Sie kann nur schwer sprechen, aber nach all der Zeit habe ich gelernt, sie zu verstehen. »Ich habe etwas für dich«, sagt sie.
»Wirklich?«
»Ja. Hör zu. Es heißt ›Das Dritte Leben‹.« Ich setze mich interessiert auf. Dieser Begriff ist in den Therapiesitzungen der letzten zwei Monate entstanden, in denen wir über den Unterschied zwischen ihrem ersten Leben vor dem Feuer und ihrem zweiten danach gesprochen haben. Und was ist mit deinem dritten Leben? , habe ich Serena gefragt. Wo siehst du dich selbst, wenn die Operationen vorbei sind?
Ich lausche Serenas näselndem Sopran, der nur vom Piepen und Surren der Monitore unterbrochen wird, die an ihren Körper angeschlossen sind:
No hiding in the darkness
No anger and no pain
The outside may be different
But inside I’m the same
Bei der zweiten Stufe habe ich die Melodie verinnerlicht und nehme sie mit meiner eigenen Gitarre auf. Ich höre auf, als Serena aufhört zu singen, und als sie den Bottleneck den Hals hinaufgleiten lässt, klatsche ich.
»Das«, sage ich zu ihr, »war das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«
»Es hat sich also gelohnt, krank zu werden?«
Während einer Sitzung hat Serena mal mit einem Regenmacher gespielt und wurde dabei immer aufgeregter. Als ich sie gefragt habe, an was sie das erinnert, hat sie geantwortet, an ihren letzten Tag in der Dominikanischen Republik. Sie war auf dem Weg von der Schule nach Hause, als es zu regnen begann. Sie wusste das, weil sie in Pfützen getreten und ihr Haar nass geworden war. Aber durch die Narben hatte sie die Tropfen nicht auf ihrer Haut spüren können. Was sie nie verstanden hat, war, dass sie zwar den Regen nicht spüren konnte, dass sie etwas so Unbedeutendes wie der Spott einer Mitschülerin wegen ihres Frankensteingesichts aber mitten ins Herz traf.
Das war der Augenblick, an dem sie beschlossen hatte, nie wieder das Haus zu verlassen.
Bei der Musiktherapie geht es natürlich nicht um den Therapeuten, sondern um den Patienten. Dennoch legt ein kleiner Tropfen auf meiner Gitarre nahe, dass ich weine. Wie Serena, so habe auch ich die Tränen auf meiner Wange nicht gespürt.
Ich atme tief durch. »Welche Zeile gefällt dir am besten?«, frage ich.
»Die zweite, nehme ich an.«
Ich flüchte mich ins Gewohnte: von Lehrer zu Schüler, von Therapeut zu Patient, zu der Person, die ich einmal war. »Erzähl mir, warum?«, sage ich.
Ich weiß nicht, wo Max das Boot aufgetrieben hat, aber es wartet auf uns, als wir nach Narragansett Bay kommen. Der Wetterbericht hatte unrecht: Es ist kalt und feucht, und ich bin ziemlich sicher, dass wir die Einzigen sind, die an diesem Morgen ein Motorboot gemietet haben. Gischt spritzt mir ins Gesicht, und ich schließe den Reißverschluss meiner Jacke bis unters Kinn.
»Geh du zuerst«, fordert Max mich auf und hält das Boot fest, sodass ich an Bord klettern kann. Dann gibt er mir den Karton, der auf der Fahrt hierher auf dem Sitz zwischen uns gestanden hat.
Max startet den Motor, und wir tuckern aufs Meer hinaus, vorbei an Segelbooten und den Bojen, die die Fahrrinne markieren. Die Schaumkronen der Wellen brechen über den Rand des Bootes und durchnässen meine Sneakers.
»Wo fahren wir hin?«, brülle ich über den Lärm des Motors hinweg.
Max hört mich nicht, oder vielleicht tut er auch nur so. Das macht er in letzter Zeit häufig. Er kommt weit nach Sonnenuntergang nach Hause, und ich weiß, dass er um diese Zeit weder gärtnern noch surfen kann. Dann dient ihm das Zuspätkommen als Vorwand, um auf der Couch zu schlafen. Ich wollte dich nicht aufwecken , sagt er, als wäre das meine Schuld.
Es ist noch nicht einmal richtig Morgen.
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