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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Lesezeichen ist. »Kennen Sie Deuteronomium, 22:20–21?«, fragt sie. »Könnten Sie das bitte dem Gericht vorlesen.«
    Pastor Clives Stimme hallt durch den Raum. »Ist’s aber die Wahrheit, dass das Mädchen nicht mehr Jungfrau war, so soll man sie vor die Tür des Hauses ihres Vaters führen, und die Leute der Stadt sollen sie zu Tode steinigen.«
    »Danke, Herr Pastor. Können Sie uns den Vers erklären?«
    Er schürzt die Lippen. »Dort wird die Steinigung für eine junge Frau gefordert, die zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht mehr unberührt ist.«
    »Ist das etwas, wozu Sie auch Ihren Schäflein raten würden?« Bevor er darauf antworten kann, stellt Angela ihm eine weitere Frage. »Und was ist mit Markus, 10:1–2? Dort ist die Scheidung verboten. Haben Sie Mitglieder in Ihrer Gemeinde, die geschieden sind? Oh … warten Sie … klar haben Sie … Max Baxter.«
    »Gott vergibt den Sündern«, sagt Pastor Clive, »und nimmt sie wieder in seine Herde auf.«
    Angela blättert weiter durch ihre Bibel. »Was ist mit Markus, 12:18–23? Wenn ein Mann kinderlos stirbt, wird seiner Witwe gemäß biblischem Recht hier befohlen, der Reihe nach mit seinen Brüdern zu schlafen, bis sie ihrem verstorbenen Ehemann einen männlichen Nachkommen schenkt. Sagen Sie das auch einer trauernden Witwe?«
    Ich hasse mich selbst dafür, aber ich muss wieder an Liddy denken.
    »Einspruch!«
    »Oder was ist mit Deuteronomium 25:11–12? Wenn zwei Männer gegeneinander handgreiflich werden und des einen Frau läuft hinzu, um ihren Mann zu erretten von der Hand dessen, der ihn schlägt, und sie streckt ihre Hand aus und ergreift ihn bei seiner Scham, so sollst du ihre Hand abhauen, und dein Auge soll sie nicht schonen. «
    Steht das wirklich da? Auf Reids Vorschlag hin habe ich mich einem Bibelkreis angeschlossen, aber so etwas Versautes haben wir dort nie gelesen.
    »Einspruch!« Wade schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch.
    Der Richter hebt die Stimme. »Miss Moretti, ich werde Sie wegen Missachtung des Gerichts verwarnen, wenn Sie nicht …«
    »Schön! Ich ziehe meine letzte Aussage zurück. Aber Sie müssen zugeben, Pastor Clive, dass nicht alles, was in der Bibel steht, heutzutage noch einen Sinn ergibt.«
    »Nur, weil Sie die Verse aus ihrem historischen Kontext reißen …«
    »Mr. Lincoln«, unterbricht ihn Angela in ruhigem Ton. »Das haben Sie zuerst getan.«



Zoe
    Die ersten fünf Sekunden, nachdem ich aufgewacht bin, ist der Tag so frisch wie eine neugedruckte Dollarnote … makellos und voller Möglichkeiten.
    Und dann erinnere ich mich.
    Dass es da eine Klage gibt.
    Dass es da drei Embryonen gibt.
    Dass ich heute aussagen muss.
    Dass Vanessa und ich für den Rest unseres Lebens immer doppelt so hoch springen und doppelt so schnell rennen müssen wie heterosexuelle Paare. Liebe ist nie leicht, aber für homosexuelle Paare scheint sie ein Hindernisparcours zu sein.
    Ich spüre, wie sie von hinten den Arm um mich legt. »Hör auf zu grübeln«, sagt sie.
    »Woher weißt du, dass ich gegrübelt habe?«
    Vanessa lächelt an meiner Schulter. »Weil du die Augen offen hast.«
    Ich rolle zu ihr herum. »Wie hast du das gemacht? Wie kann man überhaupt als junger Mensch sein Coming-out haben? Ich meine, ich kann ja kaum ertragen, was im Gericht über mich gesagt wird, und ich bin einundvierzig Jahre alt. Mit vierzehn wäre ich nicht nur einfach in den Schrank gekrabbelt und nicht herausgekommen.«
    Vanessa dreht sich auf den Rücken und starrt zur Decke hinauf. »Ich wäre lieber gestorben, als in der Highschool mein Coming-out zu haben, obwohl ich auch damals schon tief in meinem Inneren gewusst habe, wer ich war. Es gibt eine Million Gründe, sich nicht zu erklären, wenn man noch Teenager ist, denn in der Pubertät geht es darum, es genauso zu machen wie alle anderen auch. Man darf sich nicht abheben, darf nicht auffallen. In der Zeit weiß man noch nicht, was die Eltern sagen werden, und man hat Angst, die beste Freundin könnte auf den Gedanken kommen, man würde sie anmachen – glaub mir, ich habe das erlebt.« Sie schaut mich an. »In der Schule, in der ich jetzt arbeite, gibt es fünf Teenager, die schwul oder lesbisch sind, und ungefähr fünfzehn weitere, die noch nicht bereit sind, ihre Homosexualität zu akzeptieren. Ich kann ihnen tausend Mal sagen, dass das, was sie empfinden, vollkommen normal ist, und dann gehen sie nach Hause, schalten die Nachrichten an und sehen, dass Homosexuelle nicht in

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