Ein Lied für meine Tochter
Eigentlich müsste ich jetzt meine Flugblätter verteilen und für meine Dienste als Schneepflugfahrer werben. Eigentlich müsste ich jetzt meine Rasenmäher reinigen und für den Winter einlagern. Stattdessen schlafe ich jedoch bis weit in den Morgen hinein, bleibe lang auf und nehme meinem Bruder den Platz in seinem Haus weg.
Als Reid mich also bittet, ihm am nächsten Morgen auszuhelfen und Pastor Clive für ihn am Logan Airport abzuholen, nachdem dieser mit einem Nachtflug von einer evangelikalen Konferenz in der Saddleback Church zurückgekommen ist, da hätte ich eigentlich sofort Ja sagen müssen. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte ich etwas anderes zu tun. Und nach allem, was Reid für mich getan hat, hätte ich ihm wenigstens meine Zeit schenken können, wenn schon nicht mein Geld.
Doch stattdessen starrte ich ihn nur an und wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Du«, sagte Reid leise, »bist wirklich einer, kleiner Bruder.«
Liddy kam an den Küchentisch, wo ich saß, und goss mir ein Glas Orangensaft ein – als müsste sie mich daran erinnern, dass ich für ihren Haushalt so etwas wie ein Schwarzes Loch war, das Essen und Privatsphäre in sich aufsaugt.
Meinem Bruder konnte ich nicht Ja sagen, aber ihr konnte ich auch auf keinen Fall Nein sagen.
Und so habe ich, als es Morgen wird, die feste Absicht, nach Logan zu fahren, um pünktlich zum Sieben-Uhr-Flug dort zu sein, doch als ich an Point Judith vorbeikomme, sehe ich die Wellen. Ich schaue auf die Uhr im Armaturenbrett. Ich habe mein Brett und meinen Neoprenanzug dabei – die liegen immer in meinem Truck, nur für den Fall –, und ich denke bei mir, wie sinnlos es doch ist, so früh aufzustehen, wenn man sich auf dem Weg nach Boston noch nicht einmal fünfzehn Minuten Zeit zum Surfen nehmen kann.
Ich ziehe meinen Anzug an und gehe zu einer Stelle, die ich auch früher schon gemocht habe. Hier ist der Strand flach, und er kann eine lange, flache Welle in einen wahren Brecher verwandeln.
Vorbei an ein paar jungen Kerlen paddele ich hinaus. »Jerry, Herc«, sage ich und nicke den beiden zu. Herbst- und Wintersurfer sind schon ein besonderer Haufen, und wir kennen uns alle, denn nur wenige sind verrückt genug, um bei derart eisigen Temperaturen aufs Wasser rauszugehen. Ich komme genau richtig und erwische eine ordentliche, sechs Fuß hohe Welle. Auf dem Weg raus beobachte ich, wie Herc auf der Innenseite eines Brechers surft.
Ich spüre das Brennen in meinem Trizeps und die vertrauten eisigen Kopfschmerzen, die man bekommt, wenn einem der eiskalte Ozean ins Gesicht schlägt. Es fällt mir schwerer als früher, mich aufs Brett zu stellen, und ich lasse die eine Welle vorbei und warte auf die nächste. »Bist du sicher, Großväterchen?«, fragt Jerry, als er an mir vorbeipaddelt.
Ich bin vierzig. ›Alt‹ ist etwas anderes, aber in der Welt der Surfer ist man in diesem Alter ein Relikt. Großväterchen? Leck mich , denke ich bei mir und beschließe, die nächste Welle zu nehmen, um diesen Kleinkindern mal zu zeigen, wie das richtig geht.
Wenn da nicht …
Kaum habe ich mich ganz hingestellt und das Brett in die Welle gedreht, da verliere ich den Halt und falle nach hinten. Das Letzte, was ich sehe, ist mein Brett, das mit Lichtgeschwindigkeit auf mich zurast.
Als ich wieder zu mir komme, liegt meine Wange auf dem Sand, und meine Kapuze wurde mir vom Kopf gerissen. Der Wind hat das Wasser in meinem Haar in Eiszapfen verwandelt. Nach und nach erkenne ich Jerrys Gesicht. »Hey, Großväterchen«, sagt er, »alles okay mit dir? Du hast einen ziemlichen Schlag abbekommen.«
Ich setze mich auf und zucke unwillkürlich zusammen. »Es geht mir gut«, murmele ich.
»Soll ich dich ins Krankenhaus fahren? Zur Untersuchung?«
»Nein.« Ich habe am ganzen Leib Schmerzen, und ich zittere wie verrückt. »Wie viel Uhr haben wir?«
Herc zieht seinen Neoprenärmel hoch und schaut auf seine Uhr. »Zehn nach sieben.«
Ich habe über eine Stunde gesurft? »Scheiße«, knurre ich und rappele mich auf. Kurz dreht sich die Welt vor meinen Augen, und Herc stützt mich.
»Sollen wir jemanden anrufen?«, fragt er.
Ich kann ihm nicht die Nummer eines meiner Angestellten geben, denn die habe ich für den Winter entlassen. Ich kann ihnen nicht Reids und Liddys Nummer geben, denn die glauben, ich würde den Pastor abholen. Und ich kann ihnen nicht Zoes Nummer geben – nicht nach allem, was ich ihr angetan habe.
Ich schüttele den Kopf, bringe es aber
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