Ein Lied für meine Tochter
als man mir Blut abgenommen hatte. In ihrer Hand lag eine Spritze.
Ich war vollkommen sicher, dass Lila tot war.
Ich trat einen Schritt vor. Lila rührte sich nicht, und ihre Haut schimmerte blau in dem unheimlichen Licht. Ich dachte an meinen Vater und wie er auf dem Rasen zusammengebrochen war. Ich wollte gerade schreien, als Lila sich plötzlich auf die Seite rollte und mir einen Heidenschreck einjagte. »Mach, dass du rauskommst, du blöder Balg«, lallte sie.
An den Rest der Nacht erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich nach Hause gerannt bin, und das um drei Uhr morgens.
Und dass Ellie und ich hinterher nie wieder richtige Freundinnen waren.
Als ich auf der Highschool war, hat meine Mutter sich immer andere Namen für die Kids ausgedacht, die ich zu uns einlud. Aus Robin wurde Bonnie, aus Alice Elise und aus Suzy Julie. Egal wie oft ich sie auch korrigierte, sie zog es vor, die Mädchen bei dem Namen zu nennen, der ihr gefiel. Nach einer Weile reagierten meine Freundinnen sogar darauf.
Das ist auch der Grund, warum es so außergewöhnlich für mich ist, dass meine Mutter nicht ein einziges Mal den Namen von Vanessa verdreht oder verändert hat. Die beiden haben sich auf Anhieb verstanden. Es scheint kaum etwas zu geben, was sie nicht gemeinsam haben, und sie finden das so lustig, dass es mich fast in den Wahnsinn treibt.
Es ist nun zwei Monate her, seit Vanessa und ich uns zufällig im Schwimmbad getroffen haben, und wie selbstverständlich ist sie seitdem zu meiner besten Freundin geworden, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem ich dringender eine Freundin brauchte als je zuvor – zumal sich der Mensch, der bis dahin mein bester Freund gewesen war, gerade von mir hatte scheiden lassen. Eine Freundschaft ähnelt in vielerlei Hinsicht einer Liebesaffäre: Erst ist alles noch neu und spannend, dann wird es zur Gewohnheit, und die Beziehung verwandelt sich in etwas Bequemes, Vorhersehbares. Sie wird zu so etwas wie einem Lieblingspullover, den man an verregneten Sonntagen aus der Schublade holt, um sich mit etwas Vertrautem zu umgeben und sich wohlzufühlen. Vanessa ist diejenige, die ich anrufe, wenn ich meine Steuererklärung vor mich herschiebe, wenn ich im Fernsehen von einem Kanal auf den anderen schalte, wenn auf TNT Dirty Dancing läuft und ich einfach nicht wegschalten kann und wenn ein Obdachloser vor Dunkin’ Donuts, dem ich einen Fünfer gegeben habe, mich fragt, ob ich das auch klein hätte. Sie ist diejenige, die ich anrufe, wenn ich mich im Stau auf der I-95 langweile und wenn ich weine, weil ein zweijähriges Kind, mit dem ich im Krankenhaus gearbeitet habe, mitten in der Nacht seinen Verbrennungen erliegt. Ich habe ihre Handynummer auf meinem Festnetztelefon gespeichert und auf die Schnellwahltaste gelegt, auf der sich früher Max’ Nummer befunden hatte.
Rückblickend ist mir klar geworden, wie ich an einen Punkt gelangen konnte, an dem ich keine richtigen Freunde mehr hatte. Zum einen wäre da die unvermeidbare Veränderung, die mit einer Ehe einhergeht, wenn der Mensch, dem man am meisten vertraut, auch derjenige ist, neben dem man jede Nacht schläft. Doch dann bekamen alle anderen Frauen in meinem Bekanntenkreis Kinder, und ich distanzierte mich von ihnen, teils aus Selbstschutz, teils aber auch aus Neid. Max war der Einzige, der verstand, was ich mir so verzweifelt wünschte, was ich einfach brauchte … oder zumindest habe ich mir das eingeredet.
Freundinnen tun viel für einen: Sie holen einen immer wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie sagen einem, wenn man Spinat zwischen den Zähnen hat, wenn man in der neuen Jeans fett aussieht und wenn man eine üble Zicke ist. Sie sagen es einem, und es gibt keinen Streit, keine Diskussion, wie es der Fall wäre, wenn einem der eigene Mann all diese Dinge sagen würde. Sie sagen einem die Wahrheit, weil man sie hören muss, aber das beeinträchtigt die Freundschaft nicht. Bis jetzt war mir gar nicht klar, wie sehr ich das vermisst habe.
Im Augenblick sieht es so aus, dass Vanessa und ich zu spät zum Kino kommen, weil meine Mutter von einem Durchbruch mit einem ihrer Kunden erzählt. »Also habe ich zwei Dutzend Ziegelsteine gekauft und sie in meinen Kofferraum gelegt«, sagt meine Mutter gerade. »Und dann, als wir zu der Klippe kamen, ließ ich Deanna auf jeden der Steine etwas schreiben – Schlüsselworte, ihr wisst schon, die ihren emotionalen Ballast symbolisieren sollten.«
»Brillant«, bemerkt
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