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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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habe ich mir immer beim Zubettgehen überlegt, was man wohl mit einer Röntgenbrille sehen könnte. Ich habe mir Menschen in Unterwäsche vorgestellt, Hundeskelette, die Gassi gehen, und das Innere von Schmuckkästchen und Geigenkästen. Ich habe mich gefragt, ob ich wohl auch durch Wände schauen könnte, denn dann hätte ich gewusst, was im Lehrerzimmer vor sich ging. Oder wenn ich in die Umschläge auf Mrs. Watkins Tisch hätte blicken können, dann hätte ich die Antworten für die Mathearbeit gewusst. Mit Röntgenstrahlen bot sich einem eine ganze Welt neuer Möglichkeiten, und ich wusste, dass ich keinen Tag mehr ohne leben konnte.
    Also begann ich zu sparen. Es dauerte nicht lange, und ich hatte die ein Dollar zehn beisammen, mit den Bazooka-Comics war das nicht ganz so einfach. Von meinem Taschengeld kaufte ich zwanzig Kaugummis in der Woche, und ich tauschte meine beste Baseballsammelkarte – Roger Clemens, ein Rookie der Red Sox – gegen zehn Bazooka-Comics von Joey Palliazo (er hatte auf die Kodemaschine gespart). Ich ließ Adam Waldman meine Brust für weitere fünf Comics berühren – und glauben Sie mir, das war für uns beide nicht so toll –, und schließlich hatte ich nach ein paar Wochen genug Comics zusammen, um sie mit dem Geld an die angegebene Adresse schicken zu können. In vier bis sechs Wochen würde die Röntgenbrille mir gehören.
    Ich verbrachte meine Zeit damit, mir eine Welt vorzustellen, unter deren Oberfläche ich schauen konnte. Wo ich meine Eltern dabei belauschen konnte, wie sie über die Weihnachtsgeschenke sprachen, und wo ich sehen konnte, was im Kühlschrank war, ohne ihn aufmachen zu müssen. Dann, eines Tages, kam ein unscheinbares braunes Päckchen an mit meinem Namen darauf. Ich riss es auf und holte eine weiße Plastikbrille aus dem mit Luftpolsterfolie geschützten Inneren.
    Die Brille war zu groß für mich und rutschte mir die Nase herunter. Sie hatte leicht getönte Gläser, in deren Mitte ein verschwommener weißer Knochen eingeätzt war. Als ich sie aufsetzte, sah ich auf allem diesen dämlichen, falschen Knochen.
    Ich konnte durch nichts hindurchsehen.
    Ich erzähle Ihnen das zur Warnung: Überlegen Sie sich gut, was Sie wollen. Zu guter Letzt werden Sie doch nur enttäuscht.
    Man sollte glauben, nach diesem ersten Kuss hätte es eine Art Entschuldigung gegeben oder ein verlegenes Schweigen. Und tatsächlich, am nächsten Tag, nach acht Stunden Schule, in denen ich jeden Augenblick dieses Kusses analysiert hatte (War Zoe nur betrunken gewesen? War das wirklich ein magischer Moment gewesen?), traf ich mich mit Zoe im Krankenhaus, wo sie wieder auf der Station für Brandverletzungen gearbeitet hatte. Sie sagte den Schwestern, sie nehme sich mal zehn Minuten Pause, und wir gingen den langen Flur hinunter, nahe genug beieinander, um Händchen zu halten, aber wir taten es nicht.
    »Hör zu …«, sagte ich, kaum dass wir draußen und außer Hörweite von allen Krankenhausmitarbeitern und Patienten waren.
    Weiter kam ich nicht, da stürzte Zoe sich auch schon auf mich. Ihr Kuss war atemberaubend. »Gott, ja«, keuchte sie an meinen Lippen, als wir uns wieder voneinander lösten. »Genau so habe ich es in Erinnerung.« Dann schaute sie mich mit leuchtenden Augen an. »Ist das immer so?«
    Was sollte ich darauf antworten? Als ich das erste Mal eine Frau geküsst habe, hat sich das angefühlt, als würde ich ins Weltall geschossen. Das Gefühl war unvertraut und aufregend, und es fühlte sich so unglaublich richtig an, dass ich kaum glauben konnte, es bis dahin nie getan zu haben. Irgendwie waren wir auf einer Ebene, ein Gefühl, das ich bei Jungs nie gehabt hatte. Und das Gefühl war erderschütternd, intensiv .
    Und trotzdem: So wie das hier war es nicht.
    Ich wollte Zoe gerne sagen, dass sie deshalb das Gefühl hatte zu brennen, weil sie eine Frau geküsst hatte. Aber vor allem wollte ich ihr sagen, dass ich der Grund dafür war.
    Also antwortete ich ihr nicht wirklich, sondern griff nach ihr, nahm ihren Kopf in die Hände und küsste sie erneut.
    In den drei Tagen, die seitdem vergangen sind, haben wir viele Stunden in ihrem Auto verbracht, auf meiner Couch und in der Besenkammer des Krankenhauses, wo wir wie die Teenager geknutscht haben. Inzwischen kenne ich jeden Zoll ihres Mundes. Ich weiß, welche Stelle an ihrem Kiefer ich berühren muss, um sie schaudern zu lassen, und ich weiß, dass sie unter dem Ohr nach Limone riecht und dass sie am Halsansatz ein

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