Ein Lied für meine Tochter
Tisch. »Hast du so etwas schon mal gesehen?« Als Lucy den Kopf schüttelt, zupft Zoe ein paar Saiten an. Erst wirken die Töne verloren, dann fügen sie sich zu einem Wiegenlied.
»Hush, little baby, don’t say a word« , singt Zoe leise, »Mama’s gonna buy you a mockingbird. And if that mockingbird don’t sing, Mama’s gonna buy you a diamond ring.« Sie stellt die Harfe wieder ab. »Ich habe diesen Text nie verstanden«, erklärt sie. »Ich meine, hättest du nicht lieber eine Amsel, die alles sagen kann, was du ihr beibringst? Das ist doch deutlich cooler als ein Ring.« Sie zupft noch ein paar Mal an der Harfe. »Willst du es mal versuchen?«
Lucy macht keinerlei Anstalten, das Instrument auch nur zu berühren. »Also ich hätte lieber den Brillantring«, sagt sie schließlich. »Den könnte ich versetzen und mir von dem Geld eine Busfahrkarte kaufen, um endlich von hier zu verschwinden.«
Ich kenne Lucy nun schon ein Jahr und habe noch nie gehört, dass sie so viele Worte zu einem Satz zusammenfügt. Überrascht beuge ich mich vor. Vielleicht wirkt Musik ja wirklich Wunder.
»Wirklich?«, erwidert Zoe. »Und wo würdest du hinfahren?«
»Das ist doch egal. Nur weg von hier.«
Zoe zieht die Marimba zu sich heran und beginnt, einen afrikanischen oder karibischen Rhythmus darauf zu spielen. »Früher habe ich immer davon geträumt, um die Welt zu reisen«, erzählt sie. »Nach meinem Collegeabschluss wollte ich mich sofort auf den Weg machen. Wenn mir irgendwann das Geld ausgegangen wäre, hätte ich als Kellnerin oder so gearbeitet, bis ich wieder genug beisammen hätte, um weiterzuziehen. Ich hatte mir fest vorgenommen, nie mehr zu besitzen als das, was ich in meinem Rucksack tragen kann.«
Zum ersten Mal schaut Lucy Zoe bewusst an. »Und warum haben Sie das nicht getan?«
Zoe zuckt mit den Schultern. »Das Leben ist mir dazwischengekommen.«
Ich frage mich, von welchen Orten sie wohl geträumt hat. Von einem unberührten Strand? Von einem blauen Gletscher? Von den Bücherständen am Ufer der Seine?
Zoe stimmt eine neue Melodie mit der Marimba an. Diesmal klingt es wie eine Polka. »Das Coole an diesen beiden Instrumenten ist, dass sie pentatonisch gestimmt sind. Die Volksmusik überall auf der Welt basiert auf dieser Tonleiter. Ich liebe Volksmusik und wie sie einen sofort in einen anderen Teil der Welt entführt. Nur wirklich dort zu sein, ist besser, und das ist ja oft nicht möglich – zum Beispiel, wenn man nicht einfach so in ein Flugzeug steigen kann, weil man am nächsten Tag eine Mathearbeit schreiben muss.« Sie spielt weiter, und jetzt klingt die Melodie asiatisch. Ich schließe die Augen und sehe Kirschblüten und Papierwände. »Hier«, sagt Zoe und gibt Lucy den Schlägel. »Wie wäre es, wenn du mir ein Lied spielen würdest, das wie der Ort klingt, an dem du sein möchtest?«
Lucy hält den Schlägel in der Faust und starrt ihn anfangs nur an. Dann schlägt sie auf den kürzesten Stab, nur einmal. Es klingt wie ein hoher Schrei. Lucy schlägt wieder darauf und lässt den Schlägel dann einfach los. »Das ist ja so unglaublich schwul«, sagt sie.
Ich kann nicht anders. Ich zucke unwillkürlich zusammen.
Zoe schaut noch nicht einmal in meine Richtung. »Wenn du mit ›schwul‹ fröhlich meinst – und das musst du ja wohl, denn ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was eine Marimba mit der sexuellen Orientierung eines Menschen zu tun haben sollte –, nun, dann müsste ich dir widersprechen. Japanische Volkslieder klingen im Allgemeinen eher melancholisch.«
»Und was, wenn ich das nicht gemeint habe?«, fordert Lucy sie heraus.
»Dann muss ich mich wohl fragen, warum ein Kind, das es hasst, von anderen in eine Schublade gesteckt zu werden, so schnell damit bei der Hand ist, genau das mit anderen zu machen – ihre Therapeuten eingeschlossen.«
Bei diesen Worten weicht Lucy unwillkürlich zurück, und ich sehe wieder das vertraute Bild: den verkniffenen Mund, die wütenden Augen und die verschränkten Arme. Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. »Würdest du die Marimba gern mal ausprobieren?«, fragt Zoe erneut.
Schweigen.
»Was ist mit der Harfe?«
Als Lucy sie erneut ignoriert, schiebt Zoe die beiden Instrumente beiseite. »Jeder Songwriter benutzt Musik, um etwas zu beschreiben, was er nicht haben kann. Das kann ein Ort sein, aber auch ein Gefühl. Du hast doch sicher auch manchmal das Gefühl, dass du vor lauter Druck gleich platzt, oder? Nun,
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