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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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niemandem gesagt, dass sie sich in eine Frau verliebt hat. Sie war noch nie in einer Beziehung, über die die Menschen auf der Straße heimlich reden, wenn sie vorbeikommt, und sie ist noch nie als Mannweib beschimpft worden. Für sie ist das alles noch nicht real. Und wenn es so weit ist, dann wird sie zu mir kommen und mir erklären, dass das alles nur ein wunderbarer, unterhaltsamer Fehler war.
    Und dennoch … Ich bin zu schwach, um sie jetzt noch zurückzuweisen, wenn sie mich will, denn es fühlt sich einfach so verdammt gut an, mit ihr zusammen zu sein.
    Deshalb stimme ich auch sofort zu, als sie mich bittet, bei ihrer zweiten Sitzung mit Lucy dabei zu sein. Ich hatte sie ja auch schon beim letzten Mal darum gebeten, doch inzwischen frage ich mich, ob ich mich wirklich um Lucy gesorgt habe oder ob ich Zoe einfach nur bei der Arbeit sehen wollte. Aber wie auch immer … Zoe hatte damals ohnehin abgelehnt, und das war auch gut so. In der Woche, nachdem Lucy sie versetzt hatte, hat sich das jedoch geändert. Offen gesagt glaube ich, sie will mich jetzt dabei haben, um Lucy notfalls den Fluchtweg zu versperren.
    Ich helfe ihr, ein paar Instrumente aus dem Wagen zu holen. »Spielt Lucy das?«, frage ich und stelle eine kleine Marimba ab.
    »Nein. Sie spielt überhaupt kein Musikinstrument. Aber der Trick bei den Instrumenten, die ich heute mitgebracht habe, ist, dass man sie nicht spielen können muss, damit sie gut klingen. Sie sind alle pentatonisch gestimmt.«
    »Was ist das?«
    »Das ist eine Stimmung, die auf nur fünf Tönen beruht im Gegensatz zur heptatonischen Stimmung mit sieben Tönen … Du weißt schon … Do Re Mi Fa So La Ti . Pentatonische Musik findet man überall auf der Welt: im Jazz, im Blues, in der keltischen und auch in der japanischen Volksmusik. Mit dieser Stimmung kann man keine falschen Noten erzeugen. Egal welche Taste du drückst, es klingt gut.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Kennst du den Song ›My Girl‹? Von den Temptations?«
    »Ja.«
    Zoe nimmt ihre Schoßharfe und spielt das instrumentale Intro, jene sechs vertrauten, stetig ansteigenden Noten, die sich ständig wiederholen. »Das ist die pentatonische Tonleiter. Es ist die Melodie, die die Aliens in Unheimliche Begegnung der Dritten Art sofort verstanden haben. Und die Bluestonleiter beruht ebenfalls darauf.« Sie stellt die Harfe beiseite und gibt mir einen Schlägel. »Versuch’s mal.«
    »Nein, danke. Meine letzte Erfahrung mit einem Instrument hatte ich mit einer Geige, und da war ich acht. Die Nachbarn haben die Feuerwehr gerufen, weil sie dachten, in unserem Haus würden Tiere gequält.«
    »Versuch es einfach mal.«
    Ich nehme den Schlägel und schlage vorsichtig auf einen Stab der Marimba, dann auf einen anderen und auf noch einen, und schließlich wiederhole ich das Muster. Und bevor ich mich’s versehe, schlage ich auf unterschiedliche Stäbe und komponiere ein Lied. »Das ist ziemlich cool«, sage ich.
    »Ich weiß. Das nimmt der Musik den Stressfaktor.«
    Stellen Sie sich vor, es gäbe eine pentatonische Tonleiter für das Leben: Egal, was Sie auch tun, Sie können nichts falsch machen.
    Als ich Zoe den Schlägel wieder zurückgebe, schlurft Lucy zur Tür herein. Sie wirft einen Blick auf Zoe und dann auf mich, und sie weiß, dass es diesmal kein Entkommen für sie gibt. Also wirft sie sich einfach auf einen Stuhl und kaut an ihrem Daumennagel.
    »Hi, Lucy«, sagt Zoe. »Schön, dich zu sehen.«
    Lucy kaut auf ihrem Kaugummi. Ich stehe auf, schnappe mir einen Mülleimer und halte ihn ihr unters Kinn, bis sie das Ding ausspuckt. Dann schließe ich die Tür, damit Zoe von dem Lärm draußen nicht gestört wird.
    »Wie du sehen kannst, ist Miss Shaw heute dabei. Dafür gibt es einen einfachen Grund. Auf diese Weise wollen wir sicherstellen, dass du nicht wieder zu einem dringenden Termin weg musst«, erklärt Zoe.
    »Sie meinen, Sie wollen nicht, dass ich mich verpisse«, sagt Lucy.
    »Ja, das auch«, stimme ich ihr zu.
    »Ich habe nachgedacht, Lucy«, sagt Zoe. »Wenn du mir sagen würdest, was dir an unserer letzten Sitzung gefallen hat, dann könnte ich dafür sorgen, dass wir das noch mal machen …«
    »Was mir gefallen hat?«, erwidert Lucy. »Dass ich sie abgebrochen habe.«
    An Zoes Stelle hätte ich das Kind vermutlich erwürgt. Aber Zoe lächelt sie nur an. »Okay«, sagt sie, »dann werde ich einfach dafür sorgen, dass wir weitermachen.« Sie nimmt die Schoßharfe und stellt sie vor Lucy auf den

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