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Ein Lied für meine Tochter

Ein Lied für meine Tochter

Titel: Ein Lied für meine Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ein Song kann dir diesen Druck nehmen. Wie wäre es also, wenn du dir einen Song aussuchst, und während wir ihn uns anhören, reden wir darüber, wohin er uns führt.«
    Lucy schließt die Augen.
    »Ich werde dir ein paar zur Auswahl geben«, fährt Zoe fort. »Amazing Grace, Wake Me Up When September Ends oder Goodbye Yellow Brick Road . «
    Sie hätte keine drei unterschiedlicheren Lieder aussuchen können: ein Spiritual, einen Song von Green Day und einen Oldie von Elton John.
    »Na gut«, sagt Zoe, als Lucy wieder nicht reagiert. »Dann suche ich eben einen aus.« Sie greift wieder zur Harfe, und ihre Stimme beginnt leise und tief und schwingt sich dann in die Höhe auf.
    Amazing Grace, how sweet the sound …
That saved a wretch like me.
I once was lost, but now I’m found.
Was blind, but now I see.
    Zoes Gesang hat eine Fülle, die sich wie Tee an einem verregneten Tag anfühlt, wie eine Decke über den Schultern, wenn man friert. Viele Frauen haben schöne Stimmen, aber ihre hat auch eine Seele. Ich liebe den sandigen Klang ihrer Stimme, wenn sie gerade erst aufgewacht ist, und ich liebe es, dass sie nicht brüllt, wenn sie sich ärgert, sondern einen vollen, wütenden Ton ausstößt.
    Ich drehe mich zu Lucy um und sehe, dass ihr die Tränen in den Augen stehen. Verlegen schaut sie mich an und wischt sich die Tränen ab, während Zoe das Lied auf der Harfe ausklingen lässt. »Jedes Mal, wenn ich dieses Lied höre, stelle ich mir ein Mädchen in einem weißen Kleid vor, das auf einer Schaukel steht«, sagt Zoe. »Und die Schaukel hängt an einer großen, alten Ulme.« Sie lacht und schüttelt den Kopf. »Ich habe keine Ahnung warum. Eigentlich geht es in dem Lied nämlich um einen Sklavenhändler, der große Probleme mit seinem Leben hat, und dank irgendeiner göttlichen Macht erkennt er schließlich, wer er wirklich ist. Was ist mit dir? Woran denkst du bei diesem Lied?«
    »Lügen.«
    »Wirklich?«, erwidert Zoe. »Das ist interessant. An was für eine Art von Lügen?«
    Plötzlich springt Lucy auf und wirft dabei den Stuhl um. »Ich hasse diesen Song. Ich hasse ihn!«
    Mit überraschender Schnelligkeit tritt Zoe vor, bis sie nur noch wenige Zoll von dem Mädchen entfernt ist. »Das ist großartig. Die Musik hat ein Gefühl in dir geweckt. Was genau hasst du daran?«
    Lucy kneift die Augen zusammen. »Dass Sie ihn gesungen haben«, sagt sie und stößt Zoe beiseite. »Ich bin fertig hier.« Im Vorbeigehen tritt sie gegen die Marimba, und der Ton, der dabei entsteht, klingt wie ein Lebewohl.
    Als die Tür hinter Lucy zuknallt, dreht Zoe sich zu mir um. »Nun ja«, seufzt Zoe und strahlt, »wenigstens ist sie diesmal schon doppelt so lang geblieben.«
    »Der Tote im Zug«, sage ich.
    »Wie bitte?«
    »Daran erinnert mich der Song«, erkläre ich. »Ich war auf dem College und wollte zu Thanksgiving nach Hause. Der Zug war brechend voll, und ich habe mich neben einen alten Mann gesetzt, der mich nach meinem Namen gefragt hat. Vanessa , habe ich ihm geantwortet, und er hat erwidert: Vanessa Wer? Ich kannte ihn nicht, und ich hatte Angst, ihm meinen Nachnamen zu nennen. Er hätte ja ein Serienmörder oder so was sein können. Also habe ich ihm stattdessen meinen zweiten Vornamen genannt: Vanessa Grace . Und er hat zu singen begonnen und meinen Namen in Amazing Grace eingebaut. Er hatte eine wunderbare, tiefe Stimme, und die Leute haben applaudiert. Ich war total verlegen, aber er wollte einfach nicht aufhören zu reden. Also habe ich so getan, als würde ich schlafen. Als wir dann in der South Station ankamen, der letzten Haltestelle, lehnte er mit geschlossenen Augen am Fenster. Ich schüttelte ihn, um ihm zu sagen, dass es an der Zeit sei auszusteigen, aber er ist einfach nicht aufgewacht. Ich habe einem Schaffner Bescheid gesagt, und kurz darauf kamen die Polizei und ein Krankenwagen, und ich musste ihnen alles sagen, was ich wusste – was so gut wie nichts war.« Ich zögere. »Sein Name war Murray Wasserman, und er war ein Fremder, und ich war der letzte Mensch, dem er vor seinem Tod vorgesungen hat.«
    Als ich fertig bin, sehe ich, dass Zoe mich mit großen Augen anstarrt. Dann dreht sie sich zur Tür um, die noch immer geschlossen ist, und nimmt mich in die Arme. »Ich glaube, er war ein sehr, sehr glücklicher Mensch.«
    Zweifelnd schaue ich sie an. »Warum? Weil er einfach so gestorben ist? In einem Zug? Am Tag vor Thanksgiving?«
    »Nein«, antwortet Zoe, »weil du auf der letzten Fahrt seines

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