Ein Lied über der Stadt
Geschichte«, sagte ihr Vater von der Kanzel. Er sprach ruhig, aber er wirkte gleichzeitig seltsam entrückt, als ginge ihn das alles gar nichts an. Als täte er – ein wenig verwundert –, was man von ihm erwartete, ohne daran interessiert zu sein.
»Es ist die Geschichte einer unerwarteten Heilung durch den Stellvertreter Jesu. Petrus wendet das erste Mal die Macht seines Glaubens an, die ihm Jesus einstmals versprochen hat. Er tut das einfach so, ganz selbstverständlich. Gold oder Silber habe ich nicht, sagt er, aber ich kann dir geben, was ich von Gott habe: Steh auf und geh! «
Luise kannte ihren Vater. Obwohl er so fremd zurückgekommen war, konnte sie sehen, dass ihn hier doch etwas bewegte. Er schwieg einen Augenblick. Seine Hände lagen auf dem liturgischen Grün des Kanzeltuches. Mager sahen sie aus und braun. Er musste viel draußen gewesen sein. Er gab sich einen Ruck und fuhr fort: »So sollten wir sein, in jeder Lage, zu jeder Zeit, so fest im Glauben wie Petrus. Dafür lasst uns beten. Amen.«
Die Gemeinde antwortete mit dem Amen. Luises Blick wanderte zum Mesner, der wie immer im Chorraum saß. Es war eine seltsam verbissene Zufriedenheit in seinem Gesicht. Er war ja fest im Glauben, dachte Luise, dessen ist er sich so sicher. Nur macht er die anderen lahm damit. Bricht ihnen die Beine, dass sie nicht mehr gehen können, und die Flügel, dass sie nicht mehr fliegen können. Weil er nie gerannt ist vor Glück, und noch nie geflogen, noch nie. Um wie viel schlimmer diejenigen waren, die glaubten, das Rechte zu tun. Und alle waren sie so. Der Polizist. Junge. Die Gestapoleute, die Papa abgeholt hatten. Alle glaubten, sie täten das Rechte. Auf einmal fühlte sie sich sehr verloren und lehnte sich an Paul.
Am Ende des Gottesdienstes gab es dann doch noch etwas, das anders war. Ihr Vater ging zwar durch den Mittelgang als Erster zum Ausgang, aber er blieb nicht an der Tür, und er gab den Menschen nicht die Hand, wie sonst in all den Jahren. Er war sofort wieder in der Sakristei verschwunden. Luise und Paul gingen langsam gemeinsam nach Hause.
»Ob er wieder … ob er sich erholt?«, fragte Luise.
»Ja«, sagte Paul nach einer Weile. »Man muss ihm Zeit lassen. Wenn nicht …«, er beendete den Satz nicht, aber Luise dachte, dass er vielleicht hatte sagen wollen: Wenn sie ihn nicht noch einmal holen.
Endlich aßen sie wieder zusammen. Luana, die von der Messe wie immer früher zurückgekommen war, hatte so gekocht, dass die Düfte schon beim Aufschließen der Tür Wunderbares versprachen. Luise ging gleich in die Küche, um ihr zu helfen. Paul deckte den Tisch. Papa war noch nicht zurück, was alle ein wenig nervös machte, aber dann, kurz vor zwölf Uhr, hörten sie seine Schritte im Gang und atmeten auf. Er öffnete die Tür zur Küche und schaute zu ihnen herein. Das erste Mal seit seiner Verhaftung sah Luise ein kleines Lächeln an ihm.
»Es riecht sehr gut«, sagte er.
Luana ging mit einer Schüssel an ihm vorbei. Ihr Gesicht war rot und feucht von der Hitze in der Küche, und sie sagte warm: »Weil du zurück bist.«
Es gab Pao de Queijo , eine Art Brotbällchen mit Käse, dazu wie immer eine rote, scharfe Soße und – ganz fränkisch – Gurkensalat mit Dill, den Luise eben noch aus dem Garten geholt hatte. Außerdem hatte Luana Feijoada in zwei Töpfen gekocht, einmal ohne Fleisch, und für sie normal, completa , wie sie sagte. Luises Vater aß viel langsamer und bedächtiger, als sie es von früher gewohnt waren, und auch weniger.
»Es ist genug da, Papa«, sagte Paul, als er sah, wie vorsichtig er sich von allem nahm.
Aber er nickte nur und aß schweigend bis auf ein paar kurze Sätze, bis auf »bitte« und »danke«. Er wollte bestimmt nicht unhöflich sein, aber er wirkte wie in Gedanken, ein wenig abwesend, und so redete auch Luise nicht viel. Nach dem Essen stand er rasch auf.
»Ich gehe ein wenig spazieren«, sagte er.
»Es ist schön, dass du wieder da bist!« Luise hatte es schnell gesagt, bevor er aus der Tür war.
Papa drehte sich zu ihnen um. Sie saßen noch am Tisch.
»Ja«, sagte er mit schwankender Stimme, »es ist gut, wieder … zu Hause zu sein.«
Eigentlich war es ein Sonntagnachmittag, wie sie ihn aus ihrer Kindheit kannte. Die Stadt war still und die Luft unbewegt heiß. Sie saß auf der Terrasse und las, bis es Zeit wurde, sich mit Georg zu treffen. Auf der Mauerkrone lag die Katze im Schutz des Walnussbaumes langgestreckt da. Die Schatten der
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