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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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stob von den Reifen, der Regen kam fast senkrecht von vorn, aber es war nicht schnell genug. Ein Blitz, ganz nah, erschreckte sie so, dass sie beinahe den Lenker verrissen hätte; immer noch bremste sie nicht. Es wäre sowieso zu spät gewesen, die Bremsen griffen bei der Nässe gar nicht, jetzt musste das Rad auslaufen. Als sie aus dem Bärenloch wieder auf die Landstraße einbog, war sie immer noch viel zu schnell, um nach einem Auto zu schauen, doch bei diesem Wetter fuhr sowieso niemand. Allmählich, während sie der Stadt zurollte, wurde sie langsamer. Der Regen floss ihr durch die Haare, alles klebte an ihr, und sie fror.
    Wenn sie früher das Bärenloch hinuntergefahren war, hatte sie immer geschrien: »Ich fliege!«
    Ersatz, dachte sie jetzt voller Selbstverachtung, während sie schlotternd nach Hause fuhr, alles nur Ersatz!

    Ihr Vater sah sie, als sie vollkommen durchnässt, die tropfenden Schuhe in der Hand, durch den Flur zur Treppe ging, sagte aber nichts, sondern wandte sich ab, zog sich wieder in sein Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür. Sie stieg nach oben, trocknete sich ab und zog sich um. Dann ging sie in ihr Zimmer, riss alle Zeitungsausschnitte von der Wand, alle Ausschnitte, Titelbilder und Fotos aus ihrem Fliegeralbum und verbrannte sie im Küchenherd. Danach öffnete sie ihr Fenster dem immer noch rauschenden Regen, legte sich aufs Bett und dachte den Rest des Nachmittags nach.

7

    Obwohl es am Abend etwas aufgeklart hatte, war doch mit dem Gewitter ein Wetterumschwung gekommen, und die folgende Woche blieb unbeständig und kühl. Luise, die sonst von sich selbst sagen konnte, dass sie eigentlich eher ein heiteres Gemüt hatte, fühlte sich in diesen Tagen wie auf schwankendem Boden. Ihre selbstverständliche Überzeugung war auf eigenartige Weise erschüttert, und noch mehr irritierte sie, dass es so wenig gebraucht hatte, um sie zu verunsichern. Sie hatte ja gewusst, dass es eine Auseinandersetzung um das Studium geben würde. Aber dass dieser eigentlich kleine Streit sie so treffen würde, hatte sie nicht erwartet. Darüber hatte sie lange nachdenken müssen. Vielleicht lag es daran, dass sie mit einer Art Kinderglauben fest davon ausgegangen war, sie würde schon auf die eine oder andere Weise eine Fliegerin werden. Die heitere Unbekümmertheit, mit der sie zusammen mit Georg begonnen hatte, das Flugzeug zu bauen, war ihr vielleicht zu sehr wie ein Spiel vorgekommen; ein spannendes Spiel, das vom Glauben an das Unmögliche lebte. Eine Überzeugung gegen alle Widerstände, die sie einfach nicht hatte sehen wollen. Die sie mit Absicht nicht wahrgenommen hatte. Das war vielleicht ihre Sicherheit gewesen. Und was Papa eigentlich nur getan hatte, war, sie zu fragen, wie stark sie glaubte.

    Luise war auf dem Weg zur Schule, als sie sich dessen bewusst wurde. Morgens waren ihre Gedanken immer am klarsten. Es waren kühle Morgen, aber sie mochte das, weil dann alles unberührt wirkte und sie das Gefühl hatte, sie müsste nicht in ausgetretenen Wegen denken, sondern könnte ihren Gedanken jede Richtung geben. Es war ein heller Junitag, doch war ein ganz feiner Sprühregen in der Luft und die Stadtmauer deshalb mit perlender Feuchtigkeit bedeckt. Beim Entlanggehen streifte sie mit der Hand die Steine, und es tropfte von ihren Fingern auf ihr lichtblaues Baumwollkleid. Sie hätte lieber Hosen getragen, nur war das in der Schule verboten. Ob sich eine wie Melli Beese an so ein Verbot gehalten hätte?
    Bestimmt nicht, dachte sie. Bei denen war immer alles ganz klar gewesen. Die waren sich immer sicher gewesen, dass nichts anderes als Fliegen infrage kam, hatten sich gegen ihre Väter und alle Schwarzseher durchgesetzt, waren immer einen geraden Weg gegangen, all die Meeses und Möhrings und Rasches. Vielleicht hatten sie einfach einen stärkeren Willen gehabt als sie, und vielleicht war sie eben doch nur ein Mädchen, das ein Mädchen sein sollte. Mussten die Dinge sich nicht genau richtig fügen, wenn sie zur Fliegerin bestimmt wäre? Oder müsste nicht ihr Glaube an die eigene Bestimmung dann so groß sein, dass sie sich durch nichts abbringen ließe, weder durch ihren Vater noch durch sonst irgendetwas? Sie musste auf einmal an den Mesner denken. Der glaubte bedingungslos. Der wusste immer, was richtig und was falsch war. Für Eva war das manchmal sehr schwer, dachte Luise in einem Anflug von Mitleid. Aber das war auch nicht das Richtige, überlegte sie weiter, denn für den war ja alles

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