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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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andere automatisch falsch. Musste man so sein, wenn man aus einem Guss war? Wenn man ungeteilt und fest an sich glaubte? Musste dann alles andere falsch sein? Wahrscheinlich, dachte sie spöttisch, ist etwas dann schon falsch, wenn man überhaupt darüber nachdenken muss.

    In dieser Woche ging sie kein einziges Mal zu Georg in die Werkstatt. Auch zu dem Fahrtenabend der Bündischen ging sie nicht, weil Georg dort sein würde und sie eine seltsame Scheu hatte, ihn zu sehen. Er würde sie fragen, wann sie vorhatte zu kommen, aber sie konnte nicht einfach weiter an ihrem Flugzeug bauen, wenn sie nicht wusste, was sie wirklich wollte. Sie gab vor, lernen zu müssen, das schlechte Wetter tat ein Übriges, und so verbrachte sie jeden Abend zu Hause in ihrem Zimmer vor den Büchern. Der Sonnabend kam und verstrich, am Sonntag saß sie wieder zwischen Elisabeth und Eva in der Kirche und vermied es, zu den Männern hinüberzusehen, weil sie Georg eine Antwort schuldete und fürchtete, er könnte wieder dort sitzen. Nach dem Gottesdienst beeilte sie sich, nach Hause zu kommen, ohne noch mit Eva und Elisabeth zu reden, deshalb wusste sie nicht, ob er wirklich da gewesen war.

    Obwohl Luises Vater keiner von den typischen Bürgern war, für die der Sonntagsspaziergang mit der Familie eine Institution darstellte, weil er oft lieber alleine und ganz für sich und zu den absurdesten Zeiten unterwegs war, hatte Luise den Sonntagnachmittag schon als Kind nicht leiden können. Es waren leere Stunden, in denen die Stadt wie gelähmt lag, unfähig, sich nach einem allzu opulenten Essen zu rühren, in einem trägen Halbschlaf. Im Winter war es nicht so schlimm, da kam der Abend früh und damit auch der Beginn einer neuen Woche. Aber im Sommer! Als Kind hatte man im Garten keinen Lärm machen dürfen, und wie sollte man spielen, wenn man nicht laut sein durfte? Jetzt, fast erwachsen, ging sie an den Nachmittagen gerne wandern oder radfahren, aber heute war das Wetter unfreundlich und sie lustlos. Sie saß an ihrem Schreibtisch am Fenster, schob die blauen Hefte hin und her, konnte sich jedoch nicht entschließen, sie aufzuschlagen. Hinter ihr auf dem Bett lag ein Buch, das sie angefangen und wieder weggelegt hatte. Sie sah aus dem Fenster in den Regen und spielte mit ihrem Fahrtenmesser. Sie hatte es mit der Spitze der Klinge zwischen Schublade und Tischplatte eingeklemmt und ließ es federn. Immer und immer wieder. Tirrrrrr, machte das Messer, und wieder tirrrrr. Ihre Gedanken gingen im Kreis. Da klopfte es an ihrer Zimmertür.
    »Ja«, sagte sie gelangweilt, weil sie ihren Vater erwartete.
    Es war aber Paul, der hereinkam. »Darf ich?«, fragte er höflich.
    Luise machte eine zustimmende Bewegung und wies auf das Bett. Paul legte vorsichtig das Buch zur Seite, dann setzte er sich.
    »Was machst du?«, fragte er. »Studieren?«
    Luise schüttelte den Kopf und ließ das Messer federn.
    Paul sah ihr eine Zeit lang zu. »Weißt du, warum ich aus Brasilien zurückgekommen bin?«, fragte er dann unvermittelt.
    Luise hörte auf, mit dem Messer zu spielen und drehte sich zu ihm um. »Weil du Pleite gemacht hast, oder?«
    Paul lächelte ganz leicht und verlegen. »Das auch«, gab er zu, »aber das war nicht der eigentliche Grund. Weißt du«, fuhr er fort, legte sich auf seine Ellenbogen zurück und sah im Zimmer umher, während er sprach, »ich hab schon als Kind von Brasilien geträumt. Vom Amazonas. Vom Dschungel und von den Steppen. Ich hab alles gelesen, was es dazu gab. Abenteuergeschichten und Reiseberichte und natürlich Karl May.« Er lachte leise über sich selbst.
    »Was?«, sagte Luise, »Karl May ist doch spannend!«
    »Schon«, sagte Paul. »Aber er hat das ja alles nie gesehen. Ich wollte … für mich war Brasilien das Land meiner Träume.«
    Luise unterbrach ihn fast trotzig. »Ja. Und du bist ja auch hin. Hast du eigentlich Abitur machen müssen?«
    »Notabitur«, sagte Paul, »ich habe mich ja noch gemeldet. Das wollte Papa damals auch nicht. Nur war es da schon zu spät. Der Krieg war vorbei, als ich aus der Kaserne gekommen bin. Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen.«
    »Sondern?«, fragte Luise knapp. Sie wusste nicht, was Paul von ihr wollte. Sie redeten sonst nicht so sehr viel miteinander.
    »Eigentlich hat Papa mir sogar geholfen, nach Brasilien zu gehen. Wir haben ja gar kein Geld mehr gehabt in der Inflation. Dann hat er sich umgehört und hier einen Brief geschrieben und da einen, und schließlich

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