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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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sie sich, diesen Abend zu Georg in die Werkstatt zu gehen.

    Der Tag war verhangen gewesen, und die Nacht war kühl. Luise hatte sich den dunklen Rollkragenpullover übergezogen und war auf dem üblichen Weg aus dem Haus geklettert. Als sie durch die Glockengasse lief, fiel ihr ein Vers aus einem ihrer Kinderbilderbücher ein, und vergnügt flüsterte sie vor sich hin: »Pustewind hat ungefragt … von daheim sich fortgewagt. Und er denkt … eh man’s bemerkt, bin ich längst zurückgekehrt.«
    Als sie dann später bei den Gärten an der Stadtmauer vorbeikam, sah sie in dem schwachen Licht die großen Blätter einer Rhabarberstaude, blieb stehen, klappte ihr Fahrtenmesser auf und schnitt sich einen Stängel ab. Im Weiterlaufen kaute sie darauf herum; sie liebte den stark sauren Geschmack, der einem die Zähne ein wenig rau machte. Einfach, klar, voll. Leben sollte so schmecken, dachte sie flüchtig, ob süß oder sauer oder salzig, es sollte klar schmecken.
    Schließlich hatte sie genug, spuckte den Bissen auf die Straße, warf den Stängel fort und rannte den Rest des Weges, so schnell sie konnte. Es tat gut, sich zu spüren. Als sie am Rolltor ankam, war sie heiß und völlig außer Atem.
    »Hast du’s so eilig gehabt?«, fragte Georg überrascht, als sie hereinkam.
    Sie schüttelte schnell atmend den Kopf. »Einfach gerannt«, keuchte sie, »nur so.«
    Dann erst sah sie die Holzkonstruktion auf dem sauber gefegten Ziegelboden der alten Scheune.
    »Georg!«, sagte sie, »du hast … die Flügel sind ja fertig! Und der Rumpf auch!«
    Sie trat vor und berührte das Holzskelett des Rumpfes. Es sah ein bisschen aus wie ein Schiff, das noch nicht beplankt war, und wirkte sehr zerbrechlich. Sie kniete sich hin und besah sich die Übergänge, wo die schrägen Streben mit den Längsleisten verbunden waren. Alles war sauber verleimt und verzapft.
    »Hast du das allein gemacht?«, fragte sie Georg von unten herauf.
    Georg lächelte sie an. Zurückhaltend, aber auch ein wenig stolz. »Ich hatte ein bisschen Zeit diese Woche«, antwortete er.
    Sie stand auf. »Großartig«, sagte sie anerkennend, »wirklich saubere Arbeit!«
    Georg wurde rot. »Ja?«, fragte er nach. »Ich habe mich genau an deine Zeichnungen gehalten.«
    Luise hatte Tage damit zugebracht, aus körnigen Zeitungsfotos, Bildern in der Deutschen Flugillustrierten und Modellzeichnungen in Büchern einen Konstruktionsplan zu übertragen. Sie hatten damals beschlossen, sich mit ihrer Konstruktion eng an die M 17 zu halten, die Messerschmitt in Augsburg gebaut und mit der er vor zwei Jahren sogar über die Alpen geflogen war. Die M 17 war fast ganz aus Holz konstruiert und sehr leicht, deshalb hatten sie sich für dieses Flugzeug entschieden. Georg war an einem Sonntag sogar extra zur Flugschule nach Fürth gefahren, weil die dort zwei M 17 besaßen, und hatte sie von allen Seiten mit Luises Box fotografiert. Diese Fotos hingen alle über der alten Werkbank und wurden häufig zurate gezogen.
    Die Flügel lagen nebeneinander auf dem Boden, und Luise fuhr mit den Fingern die Streben ab. Jetzt konnte man sich allmählich vorstellen, wie sie aussehen würden. Das Holz fühlte sich glatt und schön an, nur war es eben so eine erstaunlich zarte Konstruktion, dass man sich fast ein wenig ängstlich fragen musste, ob sie einen wirklich tragen würde. Aber dann dachte Luise an die Wespe, die sie einmal unter ihrem Schulmikroskop gehabt hatte. Wie unfassbar fein die langen, schlanken Flügel gebaut gewesen waren. Ein Stups mit dem Finger genügte, um sie zu knicken. Und trotzdem trugen sie.
    »Wo hast du das Holz her?«, wandte sie sich dann auf einmal besorgt an Georg. »Was hat es gekostet?«
    Georg nahm die Mütze ab und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. In seinem kurzen, dunklen Haar hingen helle Sägespäne. Seine Hand hinterließ einen Schatten von Schmieröl. Er lächelte verlegen und hob die Schultern.
    »Nichts«, sagte er dann, »der Almos Martin hat mir die Leisten geschnitten.«
    Luise sah ihn zweifelnd an. Die Handwerker mochten untereinander befreundet sein, aber umsonst war nur der Tod.
    »Doch«, bekräftigte Georg, »ich hab versprochen, ihm seine Kreissäge zu schärfen. Umsonst«, fügte er hinzu.
    Luise blickte immer noch etwas ungläubig auf die Holzskelette der Flügel und des Rumpfs. Es musste eine Menge Arbeit gewesen sein, all die Winkel zu schneiden, die runden Spanten und die Leisten zu biegen. Sie hatte Georg schon länger im

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