Ein Lied über der Stadt
pickte nachlässig nach einem Insekt. Lautlos und flüssig setzte die Katze zum Sprung an, senkte die Vorderpfote, spannte alle Muskeln. Luise zwang sich, nicht in die Hände zu klatschen oder aufzuspringen. Es musste jetzt alles so geschehen, wie es eben geschah. Und dann sprang die Katze, plötzlich rauschten die Blätter, klatschten Flügel, der Häher schrie, die Katze fauchte, und dann stieg der Vogel mit einem Ruck aus dem Baum, einige Federn hinter sich lassend, aber gerettet. Wild flatternd stieg er auf, beruhigte sich, strich in einem weiten Bogen über Garten und Haus und verschwand. Die Katze sprang aus dem Baum auf die Mauer, streckte sich, als sei nichts geschehen, schlenderte mit weichen Bewegungen die Mauerkrone entlang und kletterte schließlich herunter. Dann wanderte sie zu Luise herüber und rieb ihren Kopf an ihren nackten Beinen. Luise, aus irgendeinem Grund sehr erleichtert, kraulte sie fest zwischen den Ohren.
»Du bist böse«, mahnte sie die Katze, aber die begann zu schnurren und legte sich mit dem Rücken an ihre Füße.
In dieser Minute hörte sie, wie die Haustür ging. Ihr Vater kam wieder.
»Luise?«, rief er ins Haus und Luise rief zurück: »Draußen!«
Er trat aus dem Dunkel des Hauses in die Helle der Veranda, blinzelte und nahm den Hut ab. In seinem dunkelgrauen Anzug und hager, wie er war, mit dem langen Bart und der leicht gebeugten Haltung sah er ein bisschen aus wie ein russischer Mönch.
»Es war ein hartes Stück Arbeit«, sagte ihr Vater ohne Vorrede, »aber er will sich den Aufsatz noch einmal ansehen. Er hat nichts versprochen!«, schränkte er sofort ein, als Luise aufgesprungen war.
»Das hast du gut gemacht«, sagte Luise einfach.
Ihr Vater sah sie an.
»Danke«, erwiderte er leise. Dann, um diese kleine Gefühlsregung zu überspielen, fügte er noch an: »Im Übrigen hat er sich deinen Aufsatz auch schon einmal angesehen, und er fand ihn, um es einmal so auszudrücken, nicht in allen Punkten zufriedenstellend. Außerdem hat er sich über dich beschwert. Du seist aufsässig gewesen.«
Luise hatte sich wieder gesetzt.
»Was das angeht«, sagte sie lässig, »mich stellt Junge auch nicht in allen Punkten zufrieden.«
Ihr Vater lachte. Luise blickte zu ihm hoch, dachte an den Häher und fragte schnell: »Papa, wenn ich nach München gehe, erlaubst du dann, dass ich fliegen lerne?«
Er sah zu ihr hinab und schwieg. Dann sagte er ruhig: »Ich finde es mutig, dass du für Eva aufgestanden bist. Ich werde darüber nachdenken, ja?«
Luise nickte. Ihr Vater drehte sich zum Gehen, doch dann berührte er in einem dieser für ihn seltenen Momente im Vorübergehen ihr Haar mit der flachen Hand wie in einer sehr flüchtigen Segnung und ging ins Haus.
Obwohl sie am liebsten gleich nach dem Gespräch mit ihrem Vater zu Eva hinübergegangen wäre, um ihr zu erzählen, was ihr Vater erreicht hatte, wartete sie doch, bis es allmählich anfing zu dämmern. Im Sommer war das Abendläuten um acht Uhr, und der Kirchendiener nutzte die Zeit dann meist, um den Blumenschmuck zu ordnen oder den Altar vorzubereiten. Morgen war eine Beerdigung, und Luise nahm an, dass er zumindest eine halbe Stunde nicht zu Hause sein würde. Leider war er kein Freund des Alkohols, sonst wäre er vielleicht noch in ein Wirtshaus gegangen wie so viele andere Bürger des Städtchens. Aber er war ja im Allgemeinen kein Freund irgendwelcher Freuden. Flüchtig kam ihr die boshafte Frage in den Sinn, wie er dann wohl zu zwei Töchtern gekommen war. Aber vielleicht war er ja früher anders gewesen.
Es war kurz vor acht Uhr, als sie die Tür des Pfarrhauses hinter sich zuzog und die drei Stufen mit einem Sprung nahm, um dann die Kirchgasse entlangzulaufen. Der Abend war still, warm und friedlich. Das schrille Srii der Mauersegler hoch über dem Kirchturm war das lauteste Geräusch. Luise blieb einen Augenblick stehen und sah nach oben. Die schmalen Sicheln der Vögel schnitten durch die Luft, elegant und in engen Kurven. Mauersegler konnten schneller als Flugzeuge sein, dachte sie, und sie schliefen im Fliegen. Manchmal landeten sie für Monate nicht. Obwohl sie es doch eigentlich eilig hatte, musste sie stehen bleiben und sie beobachten. Wenn man so leben könnte, dachte sie mit plötzlicher, brennender Sehnsucht, wenn man nicht mehr nach unten müsste, nie mehr, immer weiter gleiten, steigen, segeln könnte! Es musste wohl wunderbar still sein, wenn man so flog.
Die Glocken begannen zu läuten. Luise
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