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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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gab sich einen Ruck und lief weiter. Das Haus des Kirchendieners lag nicht sehr weit entfernt, wie eigentlich alles in diesem Städtchen nicht weit entfernt lag. Es war schmal und stand gedrängt zwischen zwei größeren Bürgerhäusern, die beide einen ordentlichen Treppenaufgang hatten, während das Mesnerhaus nur eine einflüglige Tür zu ebener Erde besaß. Luise klingelte. Es dauerte ein wenig, bis sich die Tür öffnete.
    Die Frau des Mesners, gar nicht so hager, wie ihr abgehärmtes, verbittertes Gesicht hätte vermuten lassen, sagte statt eines Abendgrußes nur: »Luise.«
    Es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine Frage. Aber die Mesnersfrau war nicht so schrecklich wie ihr Mann, ab und zu konnte sie sogar ganz nett sein, wenn man auch nie richtig warm mit ihr wurde.
    »Ich wollte Eva schnell noch etwas für die Prüfung übermorgen bringen«, sagte Luise und hob das Mathematikbuch hoch, das sie als Vorwand mitgenommen hatte.
    »Eva ist schon im Bett«, sagte die Mesnersfrau schnell und mit einem Blick nach hinten ins Haus. »Sie ist krank.«
    Luise gab nicht nach. »Darf ich nicht eben hinauf und zu ihr schauen?«, fragte sie. »Es dauert nur zwei Minuten.«
    »Sie ist krank«, wiederholte die Mesnerin und trat einen kleinen Schritt vor, wie um Luise aus der Tür zu drängen. Überrascht sah Luise, dass es in ihren Augen glitzerte.
    »Zwei Minuten!«, sagte Luise noch einmal, »kommen Sie, Frau Schwarz. Eva muss das Buch wirklich haben.«
    Die Frau sah kurz die Straße hinunter, aber auch sie hörte die Glocken zum Abendgebet noch läuten, weshalb sie zögernd sagte: »Wirklich nur zwei Minuten. Und lass das Licht aus, sie hat Fieber. Ihre Augen tun weh.«
    Luise war schon mit einem hastig gemurmelten Dank an ihr vorbeigeschlüpft und nahm immer zwei Stufen der engen Treppe auf einmal, hinauf ins obere Stockwerk, wo Eva sich ein Zimmer mit ihrer jüngeren Schwester teilte, die jedoch eben in der Küche war und ihrer Mutter half. Luise klopfte kurz, drückte aber im selben Moment schon die Klinke herab und trat ein. Die Vorhänge waren gegen den noch immer hellen Abendhimmel zugezogen. Schemenhaft konnte man erahnen, dass Eva im Bett lag. Als sie Luise erkannte, setzte sie sich erschrocken auf.
    »Ich darf dich gar nicht sehen!«, flüsterte sie, »du darfst gar nicht hier sein!«
    Luise machte sich nicht die Mühe nachzufragen, warum ihr Vater sie aus der Prüfung geholt hatte. Sie konnte sich schon ungefähr ausrechnen, was es gewesen war. Eva und Elisabeth hatten so ihre pikanten Geheimnisse, auf die sie so stolz waren, dass sie immer ein wenig davon durchsickern ließen, wobei Luise Elisabeth in dieser Hinsicht wesentlich mehr zutraute als Eva.
    »Papa hat mit Junge gesprochen«, begann sie ohne Umschweife und setzte sich zu Eva ans Bett, »wahrscheinlich benotet er deinen Aufsatz doch und …«
    Sie brach ab. Ihre Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie konnte Evas Gesicht erkennen. »O Gott«, sagte sie schockiert und lauter als sie wollte, »o mein Gott.«
    »Still!«, sagte Eva mit verquollener Stimme, »sei leise!«
    Auch ihre Lippen waren geschwollen und aufgesprungen. Auf dem Nachttischchen, das sah Luise erst jetzt, stand eine Emailleschüssel mit kaltem Wasser und einem Tuch darin. Das Wasser war wolkig dunkel.
    »Es ist sowieso ganz gleichgültig«, wisperte Eva schluchzend, »ich darf nicht mehr in die Schule.«
    »Zur Prüfung auch nicht?« Luise war unwillkürlich ebenfalls ins Flüstern gefallen. In einer Welle des Mitleids streckte sie die Hand aus und strich Eva über die Stirn. Eva schluchzte stärker und schüttelte den Kopf.
    »Aber das kann er doch nicht machen!«, flüsterte Luise empört, »das ist doch … Papa war extra bei Junge! Du musst auf jeden Fall zur Prüfung!«
    Eva schüttelte noch einmal in völliger Verzweiflung den Kopf. »Ich darf nicht!«
    Luise wusste nicht, was sie tun sollte. Die Luft in dem Zimmerchen war dumpfig schwer. Eine dicke Fliege surrte immer und immer wieder dumm um Evas Gesicht herum, aber Eva wehrte sie nicht ab. In einer unwilligen Bewegung verscheuchte Luise sie. Eva weinte lautlos. Luise stand auf.
    »Ich … ich …«, sie wusste nicht, was sie sagen konnte. Sie wusste überhaupt nicht, was sie tun sollte, nur dass etwas getan werden musste, das war klar.
    »Eva«, flüsterte sie, »die Prüfung ist erst übermorgen. Ich … ich rede mit ihm. Oder mein Vater.«
    Eva schluchzte nur. »Nein«, weinte sie, »es hat keinen Sinn.

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