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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Lass es. Es wird nur schlimmer. Geh weg.«
    Luise strich ihr noch einmal ratlos übers Haar, dann verließ sie schnell das Zimmer, lief die Treppe hinab und aus dem Haus, ohne Gruß. Sobald sie auf der Straße stand, stieg die Wut in ihr hoch; viel stärker noch als heute Vormittag gegenüber Junge. Der hatte ja immerhin nur die Regeln zu genau befolgt. Der war ja nur ein Regelfex, der war nicht von Grund auf böse. Aber Evas Vater! Zornig begann sie zu rennen. Es war noch nicht einmal Viertel nach acht; der Mesner musste noch in der Kirche sein. Am Brunnen rannte sie vorbei, quer über den Marktplatz, passierte den Schulhof und achtete nicht auf die Köpfe, die sich nach ihr drehten. Außer Atem bog sie in die Kirchgasse ein und blieb mit Seitenstechen vor dem Kirchtor stehen, das nur angelehnt war. Ihr war heiß, und sie atmete zwei-, dreimal tief aus, damit das Seitenstechen aufhörte und sich ihr Herz beruhigte. Dann stieg sie die Stufen hoch und zog das Tor auf.
    In der Kirche war es kaum dunkler als draußen, der helle westliche Himmel strahlte durch die hohen, farbigen Fenster neben der Orgelempore. Es war angenehm kühl, und die Luft roch nach den Blumen am Altar, dem alten Holz der Bänke und dem weißen Tuch mit dem lilafarbenen Kreuz, das von der Kanzel hing. Der Mesner stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Altar und hatte sich nicht umgedreht, obwohl er gehört haben musste, dass das Tor ging. In seinem grauen Kittel, mit gesenktem Kopf, stand er unter dem Kreuz, die Schultern eng zusammengenommen, die Hände gefaltet vor die Brust gepresst, wie Luise sehen konnte, als sie näher kam und knapp hinter ihm stehen blieb. Er sah so schmal aus, dass man sich wundern musste, wie so ein Männchen ein stämmiges Mädchen wie Eva derart hatte schlagen können. Ihr Atem ging immer noch schnell, aber sie machte sich keine Mühe, leise zu sein. Der Mesner hatte die Augen geschlossen und bewegte lautlos die Lippen.
    »Herr Schwarz!« Luise hatte laut und klar gesprochen.
    Der Mesner reagierte nicht. Er murmelte weiter.
    »Herr Schwarz!«, sagte Luise noch etwas lauter. Ihre Stimme hallte in der abendlichen Kirche.
    Ohne die Augen zu öffnen, antwortete der Kirchendiener: »Ich bete.«
    Luise hätte ihn am liebsten angeschrien, aber sie beherrschte sich und wartete. Endlich war er fertig und drehte sich zu ihr um.
    »Was gibt’s denn?«, fragte er in seiner üblichen knappen Art. Offensichtlich erwartete er nicht mehr als lediglich eine Botschaft vom Pfarrer; eine Lappalie.
    Luise sah ihn fest an. »Ich war eben bei Eva«, sagte sie dann und bemühte sich, ihren Zorn zu unterdrücken, nicht laut zu werden.
    »So«, sagte der Mesner, aber nur mit einer ganz leichten Unsicherheit. »Und?«
    »Und?«, fragte Luise ungläubig nach. »Und? Sie haben sie halb totgeschlagen!«
    Der Mesner schwieg einen Augenblick, dann sah er nach dem Kreuz und wieder zurück zu Luise. »Wer sein Kind liebt, züchtigt es«, sagte er mit seiner dünnen Stimme, aber fest und ohne Zweifel. »Eva hat schwer gesündigt. Ich habe für sie gebetet.« Er wies mit dem Kinn zu der Stelle, an der er eben noch gestanden hatte.
    Luise zitterte jetzt. »Eva hat gesündigt?«, rief sie viel lauter, als sie wollte. »Na, was denn? Was kann es denn schon gewesen sein? Ich kenne Eva doch! Aber gut …«, sie zwang sich noch einmal zur Ruhe. »Herr Schwarz, Eva hat gesagt, Sie wollen sie nicht mehr zur Schule lassen.«
    Der Mesner hatte begonnen, die Kreuze, die an den beiden Seiten des Mittelganges in Halterungen an den Bänken steckten, mit dem schwarzen Schleier zu bedecken, den sie bei Beerdigungen trugen.
    »Eva hat schwer gesündigt«, sagte der Mesner noch einmal. »Sie verlässt das Haus erst, wenn sie gebüßt hat und wieder rein ist.«
    Luise trat ganz nah an ihn heran. Er roch genauso wie die Luft in Evas Zimmer. »Wenn sie nicht zu den Prüfungen erscheint, muss sie das Jahr wiederholen!« Ihre Stimme klang gepresst, das hörte sie selbst, aber sie hätte sonst geschrien.
    »Vor Gott bedeutet ein Jahr nichts«, gab der Mesner tonlos zurück.
    Luise sah ihn fassungslos an. Dann trat sie einen Schritt zurück. »Es ist Ihre Tochter!«, schrie sie, »bedeutet Ihnen das gar nichts? Ihre Tochter! Sie hat nichts Böses getan! Was sind Sie denn für ein Mensch?«
    Der Mesner war jetzt auch am Rande seiner Beherrschung angelangt. »Luise«, sagte er, und sie hasste es, dass er sie bei ihrem Namen nannte, »du bist im Haus Gottes. Jetzt reicht es. Ich habe

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