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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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übergangslos hinzu, »haben sie im Zoo mal einen Versuch gemacht und den Bären die Käfigtür geöffnet. Sie sind nicht herausgekommen. Sie hatten Angst vor dem Licht und der Weite. So sind solche Menschen wie der Mesner auch. Aber wehe, du betrittst ihren Käfig!«
    Luises Vater hob in einer Geste nachlässiger Verachtung die Gabel mit einem aufgespießten Maniokbällchen.
    »Wir leben in einem freien Land«, sagte er spöttisch, »jeder kann denken, was er will. Manche glauben an Gott, andere an Buddha und wieder andere an Hitler.«
    »Es gibt nur einen Gott«, widersprach Luana.
    Paul legte ihr in einer sehr vertraulichen Geste die Hand auf den Arm. Luise sah das und fühlte für einen kurzen Moment so etwas wie Neid. Es musste sehr schön sein, wenn man jemanden hatte, der einen so verstand.
    »Vater meint das nicht so«, sagte er zu Luana. »Er ist Pfarrer. Wenn auch manchmal etwas seltsam«, fügte er mit diesem sehr seltenen Aufblitzen von Humor hinzu, das Luise so an ihm mochte.
    »Was wollt ihr!«, rief Luises Vater, der mit seiner Gabel gestikulierte und wieder einmal vergaß zu essen. »Es ist einfach auch eine andere Zeit. Es ist eine Zeit der Extreme und des Wandels. Hesse ist Buddhist! In Berlin haben sie ein buddhistisches Haus gebaut. Und die Neopaganen – die glauben wieder an die germanischen Götter. Das kann man nicht einfach wegwischen. Ein Volk hat ja auch eine Geschichte. Aber wir können auch nicht mehr so glauben wie im Kaiserreich. Mit Gott für Kaiser und Vaterland. Das ist vorbei. Gott segnet keine Schwerter, nur weil sie deutsch sind. Das ist der wahre Aberglaube. Man muss Gott wieder suchen und …«
    »Papa«, mahnte Luise und versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, »die Soße!«
    Ihr Vater sah, aus seinen Ausführungen gerissen, etwas konsterniert auf das Maniokbällchen an der Spitze seiner Gabel. Er hatte beim Gestikulieren Soße über den Tisch und sich selbst gespritzt. Sogar Luana verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln.
    Luises Vater stand auf.
    »Na, dann gehe ich Gott mal im Badezimmer suchen«, sagte er selbstironisch.
    Luise aß weiter, und während sie sich mit Paul und Luana über dies und jenes unterhielt, dachte sie flüchtig, wie gut es war, dass sie diesen Vater, diesen Bruder, diese Schwägerin hatte und dass sie vielleicht ganz anders geworden wäre, wenn sie im Hause des Mesners groß geworden wäre.

    Es war später Nachmittag. Sie saß im Garten auf der Veranda und hatte ihre Mathematikbücher um sich herum verstreut. Paul war nach dem Essen zurück ins Buchhaltungskontor der Brauerei gegangen, und Luana gab Gesangsunterricht in der Schule. Deshalb hatte Luise den Deckchair für sich und konnte im Freien lernen. Mathematik fiel ihr leichter als Deutsch, und Dr. Mandl war ihr auch freundlicher gesinnt als Junge, dem sie am liebsten überhaupt nicht mehr begegnen wollte. Sie dachte an Greben, der sie im Flugzeug mitgenommen, der sie hatte fliegen lassen. Der war bei der SA und trotzdem so viel freier und netter als Junge. Vielleicht lag es an etwas anderem, dass Junge so gemein … so klein im Geist war. Sie sah in den Himmel. Sommerblau. Rein. Keine Wolken. Jetzt erst fiel ihr auf, dass sie seit Tagen keinen Kuckuck mehr gehört hatte und auch keine Lerchen. Der Hochsommer kam. Bald würde sie diese Welt hier hinter sich lassen. Wenn alles gut ging, würde sie nach München gehen und irgendwie auch alle Hindernisse überwinden, um dann doch Fliegerin zu werden. Sie musste nur noch das Geld aufbringen, aber das würde sie. Vielleicht war es ihr einfach bestimmt, dachte sie.
    Eine Bewegung an der Mauer ließ sie aufsehen. Die Katze, die in der Nachmittagssonne auf der Krone gelegen hatte, war aufgestanden und bewegte sich träge zum Baum. Luise wandte den Kopf und sah einen Eichelhäher, groß, schön und so blau wie der Himmel, der auf einem niedrigen Zweig saß. Die Katze hatte ihn eben bemerkt. Der Häher war unaufmerksam, vielleicht hatte die Hitze auch ihn müde gemacht. Es war windstill. Kein Blatt bewegte sich. Der Sommer lastete schwer auf Haus und Garten. Nur aus der Ferne hörte man leise das Rauschen eines Zuges. Die Katze kam näher. Luise rührte sich nicht. Auf einmal war diese kleine, alte Geschichte zwischen Katze und Vogel wie ein Omen für ihre Zukunft. Flieg!, dachte Luise dem Häher zu, flieg! Jetzt war die Katze so nahe, dass sie stehen blieb, eine Pfote halb erhoben. Die Sonne glühte flimmernden Dunst aus den Ziegeln der Mauer. Der Häher

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