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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Blick nach oben, dass er die Zähne zusammenbiss und vor Wut bleich geworden war.
    Ich habe mir einen Feind gemacht, dachte sie, aber immer noch voller Zorn und ohne Bedauern.

12

    Das Amtszimmer ihres Vaters lag im Erdgeschoss des Hauses. Seine Fenster gingen in den Garten, und Luise, die vor dem Schreibtisch stand, konnte sehen, wie die Katze die Mauer entlangstrich, völlig im Gleichgewicht und ohne nach unten auf ihre Pfoten sehen zu müssen, bis sie mit einem kurzen Sprung aus ihrem Blickfeld verschwand. Ihr Vater, hager, ruhig und mit demselben Gesichtsausdruck von Mitleid und Verständnis, den sie als Mädchen so gemocht hatte, wenn sie mit aufgeschlagenen Knien zu ihm gerannt war und er sie auf den Schoß genommen und getröstet hatte, lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
    »Warum hat er sie geohrfeigt?«, wollte er wissen.
    Luise zuckte mit den Schultern. Sie war noch immer rot, auch wenn sich ihr Atem mittlerweile beruhigte. Sobald es geklingelt hatte, war sie aufgestanden, hatte ihren Aufsatz abgegeben und war dann den ganzen Weg nach Hause gerannt.
    »Ich weiß es nicht!«, antwortete sie, um dann mit gesenktem Blick hinzuzufügen: »Ich glaube, er hat ihr Tagebuch gefunden.«
    Sie sah – trotz ihres Streits mit ihm – vertrauensvoll zu ihrem Vater auf. Er lächelte unvermutet.
    »Ihr Tagebuch«, sagte er, »so so.«
    »Papa«, drängte Luise, »das ist ja alles nicht so schlimm. Eva kriegt öfter mal eine gelangt. Aber Junge hat ihren Aufsatz nicht benotet. Sie muss das ganze Jahr wiederholen, wenn sie ein Ungenügend hat.«
    »Na wunderbar«, seufzte ihr Vater. »Und mit wem soll ich zuerst sprechen? Mit dem Nationalchristen oder dem Nationalsozialisten? Warum hat Gott mich nicht in den Urwald geschickt? Es wäre wirklich einfacher, Eingeborene zu bekehren als diese hartköpfigen Franken. Die leben noch im letzten Jahrhundert.«
    Er sah Luise übertrieben anklagend an, als könnte sie etwas dafür, dass ihr Vater nicht in Kaiser-Wilhelm-Land eine Missionsstation führte. Sie atmete erleichtert auf.
    »Du kennst Junge doch. Rede mit ihm. Bitte, ja?«
    Ihr Vater sah an ihr vorbei in den Gang. Sie hatte in der Aufregung die Tür offen gelassen. Ein Geruch wie von heißem Honig kam aus der Küche. Luana kochte etwas, das sie beide nicht kannten. Ihr Vater seufzte wieder und stand auf.
    »Junge mag mich nicht sehr. Er ist Atheist. Jedes Mal, wenn ich zum Unterricht in die Schule komme, lässt er irgendeine Bemerkung fallen. Meistens zitiert er Nietzsche, aber im falschen Zusammenhang. Ich versuche es trotzdem mal. Komm, wir gehen essen.«
    Luise sah ihn an, und ein warmes Gefühl stieg in ihr hoch, trotz der Wut auf Junge und den Mesner, und sie musste schlucken.
    »Was ist?«, fragte ihr Vater von der Tür her. »Hast du keinen Hunger?«
    Luise nickte nur und folgte ihm.

    Beim Essen musste sie die Geschichte noch einmal erzählen, weil Paul dazugekommen war und fragte, worüber sie sich unterhielten. Luana lächelte ein wenig wehmütig, als sie Luises Empörung darüber sah, wie Eva aus dem Klassenzimmer geholt worden war.
    »Was?«, fragte Luise sie.
    »Bei uns gehen die meisten Mädchen nur vier Jahre zur Schule«, sagte Luana, »nur die Töchter aus besseren Familien gehen länger. Aber sie müssen dem Vater viel mehr gehorchen als ihr hier. Manche haben ihre Töchter schon umgebracht, wenn sie … wenn sie nicht … virginal … virtuosa …«, sie stockte, weil ihr ein Wort fehlte, und sah Paul hilfesuchend an.
    »Wenn sie nicht tugendhaft sind«, half Paul aus.
    Luise setzte sich gerade hin und legte die Gabel weg.
    »Das … Eva ist nicht so«, sagte sie dann schnell, »aber sie betet halt auch nicht jeden Tag! Sie lacht gern … und sie … na ja, sie schaut schon nach Jungen, aber das ist doch kein Grund, sie aus einer Prüfung zu holen! Ich glaube einfach, dass er eine Schraube los hat.«
    Paul sah nachdenklich auf seinen Teller. Es gab Quibe für ihn und Luana, das waren Hackfleischbällchen, und Maniokbällchen für Luise und ihren Vater. Der Duft von heißem Honig war von dem Reispudding gekommen, der als Nachtisch noch auf dem Herd in der Küche stand. Die Soße schmeckte, als könnte sie den Ärger und die Wut auflösen. Sie war von einer reinen Schärfe, die guttat.
    »Solche Leute sind gefährlich«, sagte Paul leise, »sie haben Angst vor allem Neuen. Sie leben in einer engen Welt, und das nur, weil sie immer schon in ihrem Gefängnis gelebt haben. In Hamburg«, fügte er scheinbar

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