Ein Lied über der Stadt
noch weiß und sagte kein Wort.
»Du kommst mit!«, sagte der Mesner hart und zog sie hinter sich her. Der Federhalter fiel klappernd auf den Holzboden. Junge schüttelte den Kopf und ging den beiden nach, dann schloss er die Tür. Der Pedell stand in seinem blauen Kittel im Raum, wusste nicht, was er mit seiner noch qualmenden Pfeife tun sollte, und fühlte sich sichtlich fehl am Platze. Schließlich ging er ein paar Schritte zum Fenster, klopfte die Pfeife auf dem Fensterbrett aus und machte dann eine unsichere Handbewegung.
»Bitte, meine Damen«, flüsterte er fast, »schreiben Sie weiter.«
Von draußen drangen die erregten Stimmen Junges und des Mesners herein. Kein Mädchen schrieb. Alle lauschten, aber man konnte nur Bruchstücke ohne Zusammenhang verstehen. Das Gespräch wurde immer lauter, doch anscheinend entfernten sie sich von der Tür.
»… keine Verantwortung übernehmen!«, hörten sie Junge schließlich rufen, und kurz danach kam er wieder in den Raum. Er war rot und sah wütend aus.
»Danke«, nickte er dem Hausmeister knapp zu, der froh war, wieder gehen zu können.
Von draußen drang erstaunlich laut noch das Geräusch einer Ohrfeige herein, und jetzt weinte Eva.
»Vater!«, hörte man sie rufen, »die Prüfung!«
Aber da klangen schon ihre Absätze auf den Stufen, und die Stimmen wurden undeutlich.
»Schreiben Sie weiter!«, herrschte Junge die Mädchen zornig an. »Sie haben noch eindreiviertel Stunden.«
Es dauerte trotzdem ein wenig, bis sich die Köpfe wieder gesenkt hatten, und alle hörten, wie Junge zwischen den Zähnen etwas von verdammten Christen murmelte, bevor er tief durchatmete, schließlich die Zeitung wieder aufnahm und sich lesend ans Fenster stellte.
Zucht des Leibes, dachte Luise böse, während sie auf ihr Blatt starrte, was sollte sie jetzt noch dazu schreiben? Wütend warf sie Zeile um Zeile hin, ohne besonders auf die Rechtschreibung zu achten. Zucht des Leibes! Woher nahm der Mesner das Recht, Eva so zu behandeln? Wieso durfte er sie einfach schlagen? Sie war fast erwachsen, genauso wie sie. Wieso hatte überhaupt einer das Recht, den anderen zu sagen, was sie tun sollten?
Junge hatte seine Zeitung zusammengefaltet und war zu Evas Platz gegangen. Mit ihrer Arbeit in der Hand kehrte er ans Pult zurück und begann zu lesen. Luise beobachtete ihn. Ob er den Aufsatz mit »ungenügend« benoten würde? Eva konnte doch nichts dafür, dass sie aus der Prüfung geholt worden war. Aber dann sah sie, wie Junge den Füllfederhalter aus der Innentasche seines Jacketts nahm, ihn aufschraubte und mit dem Lineal eine gerade, rote Linie schräg über alle sechs Seiten zog, die Eva bisher geschrieben hatte.
Ungenügend, dachte Luise mit plötzlichem, heißem Zorn, ungenügend! Das bedeutete, dass Eva die ganze Abschlussprüfung nicht bestanden hatte. Dass sie das Jahr wiederholen musste! Sie stand auf.
»Herr Junge«, sagte sie leise, aber vernehmlich. Junge sah überrascht auf.
»Was ist denn schon wieder?«, fragte er ungehalten.
Luise nahm sich zusammen und antwortete leise.
»Herr Junge, Eva kann doch nichts dafür, dass sie nicht weiterschreiben konnte. Könnten Sie nicht … könnten Sie nicht benoten, was sie bisher geschrieben hat? Sie wäre doch fertig geworden!«
Junge sah sie einen Augenblick lang an. Dann sagte er kalt und beherrscht: »Fräulein Anding, setzen Sie sich auf der Stelle wieder hin. Ich dulde keine weiteren Störungen mehr!«
Luise war versucht zu gehorchen. Ihr Aufsatz war noch nicht fertig, aber sie wollte nicht so einfach aufgeben.
»Herr Junge! Bitte, Eva hat doch sonst die ganze Prüfung nicht bestanden!«
Junge war von seinem Pult aufgesprungen und stand nun mit einem Mal direkt vor Luise.
»Wenn Sie sich nicht sofort setzen, werden Sie von der Prüfung ausgeschlossen, und ich nehme Ihnen Ihre Arbeit ab!«, zischte er mit hochrotem Kopf.
Luise hielt seinem Blick ein paar Sekunden stand; länger, als sie sich zugetraut hätte. Aber dann dachte sie an ihren Vater und daran, dass sie kein weiteres Jahr hier mehr aushalten würde, und setzte sich zögernd.
»Schreiben Sie!«, befahl Junge erstickt.
Luise sah zu ihm hoch. Betont langsam griff sie nach ihrem Federhalter, tauchte ihn ein und begann zu schreiben.
»Die Zucht des Geistes«, schrieb sie, »ist es, trotz der Freiheit zum Bösen das Rechte zu tun.«
Junge, der neben ihr stehen geblieben war, um sicherzugehen, dass sie gehorchte, las das, und sie merkte bei einem kurzen
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