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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Koketterie vielleicht einfach nur ein manchmal peinlicher Versuch war, sich von der schrecklichen Enge ihres Elternhauses zu befreien. Bei Elisabeth dagegen hatte sie etwas Natürliches. Luise seufzte kurz, aber ohne wirkliche Bedrückung. Sie würde nie zur Verführerin werden, aber das war es ja auch nicht, was sie wollte.
    »Wollen wir noch schnell eine rauchen? Gegen das Flattern?«, fragte Elisabeth.
    Luise schüttelte den Kopf. Sie hatte es einmal probiert, aber sie konnte es nicht leiden, und auch in der Bündischen Jugend rauchte keiner. »Dr. Mandl wird es riechen«, warnte sie Elisabeth.
    Die zuckte nonchalant die Achseln und gab Luise einen kameradschaftlichen Stoß. »Dann eben später. Und jetzt erklär mir noch mal schnell, wie man eine Schwingung berechnet.«
    Gemeinsam gingen sie ins Schulhaus, dessen Gänge noch angenehm kühl waren, stiegen die Treppen hoch, und während sie Elisabeth noch einmal geduldig die Gleichungen erklärte, dachte sie: das letzte Mal. In zwei Stunden bin ich frei.

14

    Es hatte in Luises Schulleben oft genug Momente gegeben, in denen sie ihren Nachnamen verwünscht hatte, denn fast immer war sie am Anfang aller Klassenlisten gestanden. Fast immer war sie bei Prüfungen die Erste gewesen oder wenn Zensuren vorgelesen wurden oder wenn jemand zum Direktorat geschickt werden musste. Irgendwann hatte sie sich aber daran gewöhnt, und als sie tief aufatmend aus dem Schulhaus trat, während die anderen oben alle noch im Klassenzimmer, dessen Fenster heute in übergroßer Vorsicht auch noch verschlossen waren, warteten und schwitzten, war sie bereits fertig. Es war dann doch aufregender gewesen, als sie erwartet hatte.
    Der Schulrat, der bei den Abschlussprüfungen beizusitzen hatte, der Direktor und Dr. Mandl – es war eben doch noch etwas anderes, vor einem hochoffiziellen Komitee an der Tafel zu stehen und Beschleunigungen zu berechnen, Reibungskoeffizienten darzustellen und Fallgesetze zu erklären. Aber am Schluss hatte Dr. Mandl ihr mit einem fast unmerklichen Lächeln zugenickt, und man hatte sie entlassen. Nun hatte sie bis ein Uhr Zeit, dann wurden die Ergebnisse der Gesamtprüfung verkündet. Eigentlich hätte sie vorher wissen können, dass sie so lange würde warten müssen, aber irgendwie hatte sie nicht daran gedacht. Sie war doch noch zu sehr im Schulleben gefangen, spottete sie in Gedanken über sich selbst, da kam plötzliche Freiheit nicht vor. Sie überlegte, ob sie nach Hause gehen sollte, aber der Gedanke, dort zu sitzen, bis es so weit war, gefiel ihr nicht. Es war früher Vormittag, und der Tag war so schön. In der Schule jedoch wollte sie auf keinen Fall bleiben, und dann fiel ihr ein, was sie in der Zwischenzeit tun konnte, und sie freute sich. Schnell ging sie nach Hause. Als sie das Fahrrad aus der Remise holte, konnte sie Luana hören, die wohl eben ­Teppiche im Garten ausklopfte. Sonst war das Haus still, obwohl ihr Vater wahrscheinlich im Amtszimmer war und arbeitete. Sie stieg auf und fuhr los.
    Es war ein eigenartiges Gefühl, an einem Werktagvormittag unterwegs zu sein. Das war eigentlich ein Feriengefühl. Sie konnte frei quer über den Marktplatz fahren, von dem sie sonst nur einen kleinen Ausschnitt vom Klassenzimmer aus sah. In langweiligen Stunden hatte er oft genug den Wunsch ausgelöst, wenigstens dort sein zu können statt in der Schule. Dass so ein enger Platz für Freiheit stehen konnte! Luise trat voll überschäumender Kraft in die Pedale. Eigentlich gehörte es sich ja für ein Mädchen nicht, im Stehen Rad zu fahren, aber sie wollte schnell sein. Ein Lastkraftwagen überholte sie mit plärrender Hupe, und sie trat noch ein wenig stärker, um in seinem Windschatten zu bleiben, während es den kleinen, kopfsteingepflasterten Anstieg zum Osttor hinaufging. Die Strömungseigenschaften der Luft, wiederholte sie im Geist aus der eben vergangenen Prüfung, gleichen in mancher Hinsicht denen des Wassers, denn ähnlich wie eine Flüssigkeit – sie musste jetzt sehr schnell treten, um hinter dem Wagen zu bleiben – trifft der geteilte Luftstrom nach einem Hindernis nicht sofort zusammen – sie atmete schwer –, sodass direkt hinter dem Objekt ein Unterdruck entsteht –, sie war auf der Anhöhe angelangt, und der Lastkraftwagen schaltete hoch und zog davon, während sie allmählich zu Atem kam, denn jetzt ging es leicht bergab –, der die Luise den Berg hinaufzieht, dachte sie schließlich und musste lachen. Die Anspannung der Prüfungen

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