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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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Dein Mesner und der Bürgermeister. Für alle gibt es nur einen Glauben, und das ist der ihre.«
    Er hatte die Zeitung wieder hingelegt und sie aus seinen dunklen Augen angesehen. Die waren von ihrer Mutter, hatte Luise immer wieder gehört; sie selber und der Vater hatten blaue Augen. Paul hatte sich eine Zigarette angezündet und fortgefahren: »Alle sagen, der Krieg hat die Leute kaputt gemacht, aber das stimmt nicht. Die Freiheit macht sie verrückt. Das erste Mal gibt es einen freien Staat, und das macht ihnen so Angst, dass sie sich lieber in die Gefängnisse in ihrem Kopf flüchten. Und alle anderen wollen sie da auch einsperren, und wenn die nicht wollen, schlagen sie sie tot!«
    Luises Vater hatte langsam den Kopf geschüttelt. »Ich bin nicht so.«
    Paul hatte ihn lange angesehen, fast mitleidig, und dann gesagt: »Nein. Du nicht. Deswegen können sie dich auch nicht leiden.«

    Luise musste an dieses Gespräch denken, als sie zu ihrer letzten Prüfung ging. Die langen Junitage hatten die Stadt aufgeheizt, und es war jetzt auch schon morgens warm. Im Knabengymnasium hatten sie Abiturprüfungen, und die Jungs, die Luise noch von heftigen Kämpfen auf dem Fußballfeld vor der Stadt kannte, die mit aufgeschrammten Knien und wildem Geschrei die Stadtmauer hochgeklettert und mit ihr durch Dornengebüsch gerobbt waren, trugen nun dunkle Anzüge, die ihnen um die Handgelenke zu weit und an den Beinen zu lang waren. Die ungewohnten Hemdkragen scheuerten, und die Mischung aus Angst vor den Prüfungen und der neu gewonnenen Würde als Abiturienten machte sie fast alle zu komischen Figuren. Luise musste trotz ihrer düsteren Gedanken lächeln, als sie ihren Weg kreuzten. Ein paar aufmunternde Worte, ein paar halb abergläubische Sätze flogen hin und her: »Ich fall bestimmt rein!« oder auch ein scherzhaftes »Glück auf!« oder »Ahoi.« Alle waren aufgeregt, denn es war der letzte Tag. In ein paar Stunden waren sie alle frei – oder wurden für ein weiteres Jahr zurückgestellt. Aber davon redete keiner laut. Durchfallen hieß Faulheit oder Dummheit, und es ging nicht nur in Evas Elternhaus streng zu. Durchfallen war eine Schande in diesem Städtchen, Luise hatte mehr als einmal aus den Gesprächen der Jungs nur halb leichtfertige Sätze gehört wie: »Ich weiß ja, wo mein Vater die Pistole hat. Im Schub, rechts oben.«
    So war das hier. Vielleicht hatte ihr erst die Sache mit Eva klargemacht, wie eng es hier zuging. Sie konnte zwar Pauls düstere Weltsicht nicht teilen, aber an dem, was er sagte, war schon etwas Wahres. Vielleicht war es auch der Flug gewesen, der ihr die Stadt zum ersten Mal von oben gezeigt hatte: spielzeugklein und heiter und eigentlich bedeutungslos. Solange man nicht unten zwischen ihren Häusermauern stand, die einem immer nur zwei Richtungen ließen – vor oder zurück. Aber für sie ging diese Zeit jetzt zu Ende. Überrascht von sich selbst dachte sie daran, dass sie vor zwei Wochen noch lieber hatte hier bleiben wollen, nur um mit Georg das Flugzeug fertig zu bauen. Die Dinge hatten sich so schnell verändert in den letzten Tagen. Sie wollte fort. Sie wollte fort von hier, fliegen lernen, frei werden.
    Sie war vor dem Eisenzaun ihres Schulhofs stehen geblieben und sah dem Trupp Jungen nach, der in die Schulgasse abbog. Ausnahmsweise war Luise froh, ein Kleid anzuhaben. Die schwitzten jetzt schon in ihren Anzügen – wenn sie dann vor den Prüfern standen, waren ihre Kragen sicher längst durchweicht. Die Sonne stieg eben über den Giebel des Kinos, und sie musste blinzeln, als sie in die Richtung sah, aus der Elisabeth kam.
    »Na«, rief Elisabeth quer über den Platz, »bereit zum letzten Gefecht?«
    Luise machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es ist nur Physik«, rief sie mit mehr Sicherheit zurück, als sie wirklich besaß, »und in zwei Stunden ist alles vorbei.«
    Elisabeth kam näher, und Luise sah ihr Kleid. Es war keines der billigen Baumwollfähnchen, die sie im Sommer immer alle anhatten, und auch keines der festen blauen Kittelkleider, die von den ärmeren Mädchen getragen wurden. Elisabeth hatte ein Etuikleid an, das ihre Formen betonte und ziemlich elegant wirkte. Luise pfiff anerkennend durch die Zähne. Elisabeth zuckte mit den Schultern.
    »Was willst du?«, fragte sie lässig, »Physik ist nicht meine Stärke. Da muss ich Dr. Mandl schon noch was anderes bieten.«
    Luise bewunderte Elisabeth für ihre Offenheit. Sie war viel unbekümmerter als Eva, bei der ihre

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