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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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hatten noch keine Semesterferien und waren deshalb nicht wieder aus Erlangen oder München oder Berlin in das Städtchen zurückgekehrt. Die meisten Schüler hatten Unterricht, und die Familien kamen nur am Sonntag. Nur im Sportbecken zog jemand ruhig kraulend seine Bahnen, ohne aufzusehen.
    Luise nahm den Kopf zwischen die ausgestreckten Arme und beugte sich vor. Unter ihr schimmerte das Wasser in einem klaren Grün. Sie beugte sich noch ein klein wenig weiter vor, am Rande des Gleichgewichts, dann hob sie sich auf die Zehenspitzen und begann zu fallen. Dieser Augenblick war es, für den sie sprang. Dieser Moment, in dem sie schwerelos wurde, in dem sie sich mit einer letzten, winzigen Streckung der Beine vom rauen Beton des Turmes abstieß, sich streckte und flog. Diese Sekunde des Fallens, dieser Wimpernschlag, in dem man sich fliegen spürte und von nichts aufgehalten wurde.
    Sie tauchte straff gestreckt ein, wurde langsamer, beschrieb, immer noch gestreckt, unter Wasser einen Bogen und tauchte auf.
    Als sie die Leiter wieder nach oben kletterte, fragte sie sich, was eigentlich hinter diesem Gefühl steckte. Sie wusste, dass sie es liebte, sich fallen zu spüren. Aber woran lag das?
    Wieder stand sie am Rand. Der warme Juliwind war kühl an ihrem nassen Körper. Sie streckte die Arme nach oben und nahm sie dann leicht nach vorn. Den Kopf dazwischen. Und als sie sich wieder auf die Zehenspitzen hob und zu kippen begann, da dachte sie flüchtig: Das ist es. Wenn nichts mehr rückgängig gemacht werden kann. Wenn du nicht mehr aufgehalten werden kannst und dich auch nichts mehr hält. Der Moment, in dem es kein Wenn und kein Aber mehr gibt. Und dann flog sie wieder, gerade wie ein Pfeil, und tauchte fast ohne Spritzer mit flüchtigem Bedauern ein.

    Später, mit noch feuchten Haaren, saß sie auf dem schmalen Bänkchen in einer der hölzernen Kabinen des Fernsprechamtes, hielt sich den schweren schwarzen Hörer dicht ans Ohr und lauschte dem Knistern und Knacken in der Leitung, bis die Verbindung nach München hergestellt war. Es tutete ein paarmal, dann wurde abgenommen.
    »Greben am Apparat. Wer spricht, bitte?«
    Luise war nun doch ein wenig aufgeregt. »Luise Anding«, sagte sie rasch, »Sie erinnern sich? Sie haben mich vom Flugtag in Würzburg nach Hause geflogen.«
    Es dauerte ein wenig, bis von der anderen Seite eine Reaktion kam. »Entschuldigen Sie, wer spricht da bitte?«
    Luise war auf einmal sehr erschrocken. Ihr Münchenplan stand und fiel mit Greben. »Anding«, sagte sie zögernd, »Luise Anding«.
    Durch das Rauschen des Hörers kam jetzt ein Lachen. »Ach, das fliegende Fräulein! Ich hatte Sie nicht verstanden, Sie haben so schnell gesprochen. Na, Sie sind ja überhaupt so schnell!«
    Luise atmete erleichtert auf.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte Greben.
    Luise holte noch einmal tief Luft. Jetzt kam der schwierige Teil. »Ich komme im Herbst nach München«, sagte sie, »und ich will fliegen lernen.«
    Es gab eine kleine Pause. Sie hörte ein Rascheln.
    »Herr Greben?«, fragte sie in den Hörer.
    »Ich habe mir nur meinen Block geholt«, sagte Greben mit einem unüberhörbaren Lächeln in der Stimme, »Sie sind wirklich schnell. Schnell und ungeduldig. Geben Sie mir mal Ihre Adresse. Ich sende Ihnen das Antragsformular für den Leichtflugzeugclub. Da müssen Sie eintreten.«
    Luise diktierte Greben überrascht ihre Anschrift.
    »Sie melden sich dann bei mir, sobald Sie in München sind, junge Dame!«, schloss Greben das Gespräch in heiterem Befehlston, »und …«, er zögerte kurz.
    »Ja?«, fragte Luise gespannt nach, aber Greben sagte nur noch: »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
    Dann legte er auf. Auch Luise hängte den Hörer ein, blieb aber noch einen Augenblick in der Kabine stehen, ohne zu merken, dass draußen die Frau des dicken Apothekers stand, die wohl auch telefonieren wollte. So ist das also, dachte Luise, jetzt beginnt es also wirklich. Und für kurze Zeit hatte sie dasselbe, unvergleichlich schöne Gefühl wie vorhin auf dem Sprungturm in dem Augenblick, als ihre Füße sich vom Boden lösten.

    Es war spät am Abend, als Luise das Haus noch einmal verließ. Sie kletterte aus dem Fenster wie immer, aber eigentlich war das schon mehr, als gebe man einer sentimentalen Regung nach denn einer echten Notwendigkeit. Ihr Vater hätte vielleicht gar nichts gesagt. Er hatte sich ihr gegenüber in kurzer Zeit sehr verändert. Diesmal rannte sie nicht durch die nächtliche

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