Ein Lied über der Stadt
hatte sich schon manchmal gefragt, woran das lag. Ob es mit dieser verschwommenen Vorstellung von deutscher Disziplin zu tun hatte oder einer deutschen Bodenständigkeit? Sie wusste es nicht, denn andererseits war es ja völlig in Ordnung, auf dem Feld zu vespern oder am Lagerfeuer zu essen. Logisch war diese Ablehnung nicht, und vielleicht war es letztlich nur eine Art kleinbürgerlicher Neid in anderem Gewand.
Luana saß schon in einem der Korbstühle in der Sonne und trank ihren süßen, schwarzen Kaffee. Das war übrigens eines der wenigen Dinge, über die sie sich nie einigen konnten und gelegentlich liebevoll-spöttisch den Kopf schüttelten. Luise hätte nie auf Milch im Kaffee verzichten können. Luana dagegen fand, dass Kaffee durch Milch einen faden Geschmack bekam.
Luise setzte sich erst nach einem Augenblick zu ihr. Im Stillen bewunderte sie immer, wie Luana mit so wenigen Handgriffen aus einem Alltagsbild etwas Schönes zaubern konnte. Auf dem Tisch standen in einem Sektkelch ein paar Stängel lila blühender Schnittlauch, violetter Steinquendel von irgendeinem Wegrand und, wieder in einem anderen Lila, Borretsch. Niemand sonst hätte wohl Kräuter als Dekoration auf den Tisch gestellt.
»Guten Morgen«, sagte Luise und setzte sich. Luana lächelte ihr zu und reichte ihr den Korb mit Brasileiras , deren Duft schon vorhin im Haus nach oben gezogen war, als Luise sich noch im Bad gewaschen hatte. Brasileiras waren ganz kleine süße Brötchen, die mit Kokosmilch gebacken wurden. Luana hatte sie das erste Mal gemacht, nachdem sie mit ihrem Schwiegervater über die Kosten der Kokosnüsse in Streit geraten war und er ihr dann, wie zur Wiedergutmachung, ein paar Kokosnüsse gekauft und in die Küche gelegt hatte – eine wortlose Bitte um Verzeihung. Luana hatte dann die Brasileiras gebacken – ein wortloses Annehmen der Entschuldigung. Luises Vater liebte sie, auch wenn er sich sonst nicht so sehr viel aus Essen machte.
»In Brasilien ist jetzt Winter«, sagte Luana mit einem Blick auf den wuchernden Garten, der von Grün überzuquellen schien, weil der Efeu über die Mauerkrone gewachsen war.
»Wird es manchmal auch richtig kalt bei euch?«, fragte Luise kauend.
Luana lachte. »Nie. Wo ich herkomme, ist es im Winter so wie hier jetzt. Bei uns ist der Winter die schöne Jahreszeit, dann ist es nicht so heiß.«
»Und du hast wirklich noch nie Schnee gesehen, bevor du zu uns kamst?«, fragte Luise noch einmal. Es war gar nicht so selten, dass sie mit Luana darüber sprach, aber es war immer wieder ein prickelnd schönes Gefühl, sich vorzustellen, wie es war, in einem Land zu leben, das keinen Schnee kannte, in dem der Winter wie hier der Sommer war.
Luana lachte leise. »Niemals«, sagte sie dann. »Als wir hier angekommen sind, war Winter, und ich hatte nichts anzuziehen. Gar nichts. Hamburg war ganz verschneit, und am Bahnhof habe ich, als Paul nicht hingesehen hat, ganz schnell ein bisschen frischen Schnee von einer Bank genommen und gegessen. Ich wollte wissen, wie er schmeckt.«
»Und?«, fragte Luise, während sie ihren Kaffee trank. Es war wunderbar, so früh wach zu sein, im Freien frühstücken zu können, sich mit Luana zu unterhalten und nicht in die Schule zu müssen.
Luana überlegte kurz. Ihr fast blauschwarzes Haar, zu einem makellosen Zopf geflochten, glänzte im Sonnenlicht. »Ich denke, er schmeckt wie Deutschland: kalt, aber schön«, antwortete sie mit einem Anflug von Humor, der bei ihr so selten war. Luana war immer freundlich, sie lachte auch öfter als Paul und verstand seine und Papas ironische, manchmal sarkastische Bemerkungen, aber sie selber scherzte fast nie.
Luise stand auf, fischte sich noch schnell ein Brasileiro aus dem Korb und war schon auf dem Weg zur Remise, um sich das Fahrrad zu holen.
»Ich gehe schwimmen«, rief sie Luana zu, »grüß Papa!«
Luana winkte ihr, lächelnd über ihre Eile, zum Abschied zu und frühstückte weiter. Auch das war wohl einer der großen Unterschiede zwischen Brasilien und Deutschland, dachte Luise, als sie sich auf das Rad schwang – Luana ruhte in sich, es war, als sei um sie herum immer ein kleiner, ruhiger Teich von Zeit. Und sie selbst? Sie war wohl immer in Bewegung, dachte sie ein wenig selbstverspottend, während sie in Richtung Sportbad fuhr und der Fahrtwind ihren Rock flattern ließ.
Sie stand auf dem Siebeneinhalbmeterturm und sah über die Wiesen am Fluss. Um diese Zeit war das Sportbad fast leer. Die Studenten
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