Ein Lied über der Stadt
Stadt. Der Tag war so von diesem Telefongespräch beherrscht worden, er war so voll von Überlegungen und Zukunftsplänen gewesen, dass sie innerlich vibriert hatte. Jetzt wanderte sie den langen Weg an der Stadtmauer entlang in die Vorstadt. Zum einen wollte sie Georg sehen und den Streit beilegen. Zum anderen aber wollte sie ihr Flugzeug weiterbauen. Im September würde sie nach München gehen. Bis dahin wollte sie es mit Georg fertig haben. Vielleicht, dachte sie, während sie über die Brücke ging, kurz stehen blieb und auf das leise Plätschern des Stadtbaches hörte, vielleicht gar nicht so sehr für mich. Ich werde ja in München fliegen. Aber für Georg. Wahrscheinlich haben wir beide nicht über das Jahr hinausgedacht, überlegte sie, wir haben vielleicht beide gedacht, es würde immer so weitergehen. Das Flugzeug bauen. Mit den Bündischen Fahrten unternehmen. Freunde sein.
Sie stieß sich vom Geländer ab und ging weiter. Ich komme ja zurück, dachte sie. Wenn ich fertig bin, wenn ich den A-Schein habe und das Studium vorbei ist. Und dazwischen ja auch. Womöglich kann ich ihm dann das Fliegen beibringen, überlegte sie und erschrak ein wenig vor ihrer Kühnheit, die schon voraussetzte, dass sie das alles schaffen würde. Aber dann straffte sie sich und dachte: warum nicht? Ich kann das. Ich bin dafür gemacht. Und dann fügte sie im Geist ironisch hinzu, dass sie jetzt nur noch Georg davon überzeugen musste.
Es war kein Licht in der Werkstatt. Als sie durch die Spalten zwischen den Brettern des Rolltores nach innen lugte, konnte sie nur Schemen erkennen. Georg war nicht da. Sie überlegte enttäuscht, ob sie wieder gehen sollte, aber dann entschied sie sich anders. Sie wusste, wo der Schlüssel versteckt war. Georg hatte es ihr gezeigt; für den Fall, dass er einmal später kam oder sie alleine in die Werkstatt wollte. Sie ging zu einem der rußigen Fensterbretter, stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete, bis sie den Schlüssel spürte. Schnell lief sie zur Tür, sperrte auf und trat ein. Die Luft roch vertraut nach Leinen, nach Holz und Metall, nach Leim und Öl. Sie atmete tief ein und suchte den Lichtschalter, stolperte über eine Latte, die ungewohnt unordentlich im Weg lag, stützte sich an der Ziegelwand ab und drehte das Licht an. Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten. Und dann sah sie es. Vor ihr stand der Rumpf ihres Flugzeugs. Daneben lagen die Flügel, die sie kürzlich mit Stoff bespannt hatten. Sie atmete scharf ein, dann hielt sie erschrocken die Luft an. Jetzt wusste sie, warum es so stark nach Holz roch. Die Flügel waren ein einziger Trümmerhaufen. Die Streben waren geknickt und zerbrochen, das Leinen zerrissen. Fußabdrücke auf dem Stoff zeigten, dass jemand darauf herumgetrampelt war. In den Rumpf waren mit einem schweren Hammer Löcher geschlagen worden. In einer Parodie von Genauigkeit lagen sie alle auf einer Linie wie brachial geschlagene Bullaugen. Luise schossen die Tränen in die Augen, als sie das sah. Sie trat näher und betrachtete die Zerstörung. Georg hatte ihr Flugzeug zertrümmert. Vorne, am Bug, steckte noch der Hammer in einem der Löcher, als hätte er keine Kraft mehr gehabt, ihn herauszuziehen.
Luise konnte es nicht fassen. Sie berührte die fransigen Kanten der Löcher, versuchte, die Spanten der Flügel wieder aufzurichten, aber es blieben völlig nutzlose Bemühungen. Das Flugzeug war kaputt. Ein Jahr Arbeit einfach so zerstört. Luise drehte sich um ihre eigene Achse und sah um sich, immer noch außerstande zu verstehen, was Georg getrieben hatte.
»Wieso?«, flüsterte sie tonlos, »wieso?«
Sie versuchte, den Flügel aufzuheben, aber er knickte in der Mitte ab, und die Spitze hing nach unten. Sie legte ihn zurück, vorsichtig, dann richtete sie sich auf. Georg hatte ganze Arbeit geleistet. Das war es nun also. Sie wurde ruhiger und blieb einfach stehen, während sie versuchte, zu begreifen, was Georg getan hatte. Schließlich stieg sie über den Flügel, trat auf kein einziges Bruchstück, das im Weg lag, drehte das Licht aus, sperrte sorgfältig die Tür ab, legte den Schlüssel zurück und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die Stadt schlief. Die Uhr des Kirchturms schlug eins, kurz danach gefolgt von der Glocke des Rathausturmes. Es roch nach wilder Kamille am Fuße der vom Tage noch warmen Stadtmauer und nach Gras, aber sobald sie durchs Stadttor in die Gassen einbog, schlug ihr der dumpfige Geruch
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