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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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noch einmal durchging, und Luise wusste, was er meinte.
    Am Abend dieses Tages saßen sie alle vier auf der Veranda. Es war noch hell, die Sommersonnenwende noch keine zwei Wochen vorbei. Paul hatte zu Luises Ehren Erdbeerbowle ­gemacht, war so gelöst wie selten, und küsste ihr, die als Letzte auf der Veranda erschien, nur ganz wenig ironisch die Hand.
    »Fräulein Anding«, sagte er lächelnd, »willkommen in der wahren Welt!«
    »Dummer Paul«, sagte sie entwaffnet, musste lachen und war gleich um zwei Zehntel besser gelaunt als zuvor. Luana umarmte sie mit ihrer selbstverständlichen Zärtlichkeit, die in dieser Familie sonst so selten und wohl einer der Gründe war, weshalb Luise Luana so mochte.
    Sie war keinen Alkohol gewohnt, und so stieg ihr die Erdbeerbowle schon beim zweiten Glas zu Kopf; sie fühlte sich leicht und ein klein wenig schwindlig. Dann stand ihr Vater auf.
    »O Papa«, bat sie, »keine Rede! Wir sind doch nicht in der Kirche!«
    »Tochter!«, erwiderte ihr Vater übertrieben ernst. »Schweig stille!«
    Luana lächelte.
    »Du bist die Jüngere«, begann ihr Vater, »die Zweitgeborene. Deshalb ist es mir überhaupt nie so leicht gefallen, dich groß werden zu sehen. Wenn die Nesthäkchen aus dem Haus gehen, dann werden die Väter grau.«
    Luise bewegte sich ein wenig unbehaglich auf ihrem Stuhl. Sie mochte das Erhabene gar nicht. Aber da fuhr ihr Vater schon fort, und nun begann man, die leise Ironie herauszuhören.
    »Es ist ja ein Jammer«, seufzte er übertrieben, »dass die Kaiserzeit vorbei ist. Keine Tochter ist ihrem Vater noch eine Stütze im Alter …«
    »Paul hat dir doch eine Tochter in Brasilien gekauft«, unterbrach ihn Luise boshaft. Luana knuffte sie kameradschaftlich. Sie hatte sich an den Humor der Familie gewöhnt. Luise lachte. Das machten die Bowle und Papas unbewegt ernstes Gesicht, als er weitersprach.
    »Früher also wäre eine anständige Tochter nie auf den Gedanken gekommen, ihren einsamen alten Vater seinem Sohn und seiner südamerikanischen Tochter auszuliefern, auch wenn die außergewöhnlich gut kocht.«
    Luana verbeugte sich geschmeichelt. Paul saß zurückgelehnt, das Gesicht in der allmählich zunehmenden Dämmerung außerhalb des Lichtkreises der Petroleumlampe, die über dem Tischchen hing. Von irgendwoher wehten die Klänge eines Grammofons aus einem offenen Fenster herüber. Ein Tango.
    »Aber Papa«, sagte Luise, nun doch ein bisschen von dem kaum merklichen Unterton der Trauer berührt, der in ihres Vaters Worten mitschwang, »wir streiten doch die ganze Zeit.«
    »Den Teil werde ich nicht vermissen«, sagte ihr Vater trocken. »Aber ich höre gleich auf, nicht zuletzt, weil ich nicht so lange stehen will. Es ist nämlich so.«
    Jetzt wurde er auf einmal doch ernst. Paul und Luise kannten das. Nicht nur der Ton veränderte sich dann, auch die Rede wurde immer flüssiger, wenn ihr Vater begann, Gedanken, die er lange mit sich herumgetragen hatte, vor den Menschen auszubreiten, sei es in der Kirche oder zu Hause.
    »Es ist nämlich so«, wiederholte er, »dass mir die letzten Monate, vor allem aber die letzten Tage, gezeigt haben, was man als Vater tun soll und was nicht.«
    Luise merkte, dass er auf den Mesner und Eva anspielte, und fühlte, wie sie rot wurde, ohne zu wissen, warum.
    »In den letzten Monaten bist du auf einmal groß und mir ein wenig fremd geworden«, fuhr er fort, »anders, als ich dachte. Aber so ist es ja immer. Die Kinder müssen anders werden als die Alten. Und in den letzten Tagen wiederum ist mir die neue, schon fast erwachsene Luise wieder neu vertraut geworden.«
    »Papa«, mahnte Paul, »du hast versprochen, es wird nicht mehr lang.«
    Ihr Vater wischte den Einwand mit einer unwilligen Handbewegung zur Seite. »Ich habe also nachgedacht, was man dir zum bestandenen Abschluss schenken sollte.«
    Er griff nach einem kleinen Büchlein, das vor ihm lag, und hob es hoch. »Ich habe bei deiner Geburt ein Sparbuch angelegt. Leider ist ja eine Inflation dazwischengekommen, die aus meiner Sicht nicht unbedingt nötig gewesen wäre, aber auch so ist noch zumindest ein kleines Anfangskapital für ein Studium zusammengekommen. Das ist mein Geschenk an dich.«
    Er reichte es Luise, die aufgestanden war und es in Empfang nahm. Paul wollte aufstehen, um auf Luise anzustoßen, aber sein Vater gab ihm noch einmal zu verstehen, dass er noch nicht fertig war. Paul setzte sich schweigend, ohne seinen Unmut zu zeigen. Er mochte kein Pathos, keinen

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