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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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weit nach hinten. Das Orgelvorspiel hatte bereits begonnen. Luise, die von Kindheit an mit den Liedern vertraut war und sie auch erkannte, wenn an der Orgel über sie variiert wurde, bewegte unwillkürlich die Lippen mit: Du bist, Herr, mein Licht und meine Freiheit. Die Glocken schwangen aus. Elisabeth stieß Luise an, aber sie hatte auch schon gesehen, dass der Mesner aus der Sakristei gekommen war und sich wie immer im Chor auf einen der hohen schwarzen Stühle setzte, die vor dem Krieg nur der Patronatsfamilie zugestanden hatten und jetzt, nachdem es keinen Adel mehr gab, immer leer blieben.
    Ihr Vater kam nun auch aus der Sakristei. Hager, groß, im schwarzen Talar – er hätte noch eindrucksvoller ausgesehen, wenn er nicht vergessen hätte, das Beffchen bügeln zu lassen, dachte Luise und unterdrückte ein Lächeln. Die Orgel setzte wieder ein, und die Gemeinde begann zu singen: Du bist, Herr, mein Licht und meine Freiheit. Auf einmal kam ihr der Gedanke, dass sie das nicht mehr oft erleben würde. Bald ging sie fort. Der kleine Anflug von Bedauern überraschte sie ein wenig. Aber es waren ja nicht die Kleinstadtgottesdienste, die sie vermissen würde, sondern eher ihren Vater, wie er – nach fünfzehn Jahren immer noch ein wenig fremd wirkend – in der Kirche stand, selbstvergessen und entrückt.
    Nach dem ersten Lied stand der Mesner auf, um den Predigttext zu lesen. Das war eine seiner eifersüchtig gehüteten Aufgaben. In anderen Gemeinden wechselten die Kirchenvorsteher sich ab, wie Luises Vater schon manches Mal erbittert geklagt hatte, und er fand es umso schlimmer, weil der Mesner nicht vortragen konnte. Er las alle Bibeltexte fast unerträglich monoton, und wenn sie noch so schön oder furchtbar waren – immer blieb der Ton gleich. Heute hatte Luises Vater einen Johannestext gewählt.
    » Da sprach nun Jesus … «, kam die dünne ausdruckslose Stimme vom Pult mit der aufgeschlagenen Bibel, » … und die Wahrheit wird euch frei machen … «
    Es war normalerweise schwer, die Augen bei diesem Geleier offen zu halten, aber Luises Widerwillen gegen den Mesner war seit der Sache mit Eva so groß, dass sie nicht Gefahr lief, dabei einzuschlafen. Eher fragte sie sich, wie er diese Worte lesen konnte, ohne zu begreifen, was sie eigentlich bedeuteten. Wie verdreht musste der Glaube dieses Mannes sein, dass er Eva einsperren und hier von Freiheit deklamieren konnte? Der Mesner setzte sich. Wieder wurde gesungen. Ihr Vater verschwand in der kleinen Tür zu der winzigen Treppe, die ungesehen zur Kanzel führte. Oben angekommen, stand er ruhig da, während die Gemeinde die Strophen zu Ende sang. Luise musste erneut über das Beffchen lächeln. Papa, der ja häufig ernst war, hatte immer irgendwo etwas Jungenhaftes an sich; oft in seinen ironischen Scherzen, manchmal auch in seiner Unbeholfenheit praktischen Dingen gegenüber und eben manchmal auch in seinem Äußeren.
    » Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn … «, begann er, und die Gemeinde antwortete dumpf im Chor: » … der Himmel und Erde gemacht hat. «
    Luise sah, wie ihr Vater seine Predigt ordnete und dann aufblickte, als sähe er eben erst richtig, wo er war.
    »In dem Johanneswort, das wir eben gehört haben«, begann er mit seiner klaren, ausdrucksvollen Stimme, »ist die Rede von der Freiheit. Jesus verspricht den Jüngern, dass sie frei werden, und die verstehen kein Wort von dem, was er sagt.«
    Eine Färbung im Ton ihres Vaters ließ Luise aufhorchen. Irgendetwas war nicht wie sonst. Eine größere Spannung lag in dem, was er und wie er es sagte.
    »Die Jünger«, sprach er weiter, »sagen empört: › Was? Wir sind doch frei! Wir sind doch nicht von Knechten geboren, sind doch nicht niedriger Abstammung. Was meinst du, Herr? ‹ Und da sagt Jesus zu ihnen, dass sie nur glauben, sie seien frei. Weil es nämlich in der Sünde keine Freiheit gibt, sondern nur in der Befreiung.«
    Luise sah, wie der Mesner mechanisch nickte, als er von der Sünde hörte. Wieder spürte sie, wie die Wut in ihr hochstieg, und sie stieß Elisabeth an, um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Ihr Vater fuhr fort: »In dieser Gemeinde gibt es viele Menschen, die nach Jesu Begriff nicht frei sind. Sicherlich gehören wir alle dazu, und wir alle müssen um die wahre Freiheit kämpfen. Aber«, und jetzt hob er seine Stimme, dass sie die ganze Kirche ausfüllte, »aber es gibt hier vor allem zwei Menschen, die wahre Freiheit nicht kennen. Einer davon ist Eva Schwarz,

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