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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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und löste sich in der warmen Luft schnell auf. Luise stellte den Koffer ab und wechselte den Korb in die andere Hand. Die Fahrgäste, die mit ihr aus dem Bahnhofsgebäude gekommen waren, zerstreuten sich rasch. Ein paar Ausflügler, eine kleine Gruppe Hitlerjungen und ein Bauer im schweren schwarzen Sonntagsanzug, der jetzt schon schwitzte und seinen Hut in der Hand hielt. Luise sah sich nach einem Dienstmann um. Obwohl es vom Bahnhof nur ein knapper Kilometer bis zum Pfarrhaus war, wollte sie bei diesem Wetter den Koffer nicht unbedingt schleppen. Aber außer einem Gespann des Gasthauses zum Roten Ochsen , das wohl auf Gäste wartete, stand nicht einmal eine Autodroschke auf dem Platz. Luise dachte an München, an den Verkehr dort und die lange Reihe von schwarzen Taxen, die Tag und Nacht am Bahnhof standen. Auf einmal kam sie sich in ihrem dunkelblauen Kostüm in dieser Leere des Vorplatzes fast fremd vor. Sie musste über sich selbst lächeln und nahm entschlossen den Koffer hoch.
    Sobald sie die Bahnhofstraße überquert hatte und außen an der Stadtmauer entlangging, hörte sie die Blaskapelle aus dem Stadtinneren nicht mehr. Weil es so windstill war, rauschte es auch nicht in den Linden und Kastanien, die die Promenade am äußeren Ring säumten. Nur die Vögel hörte man zwischen den Zweigen. Und die Lerchen im Flug. Sie sah in den Himmel. Lerchen. Tauben. Schwalben. Noch höher über ihnen stand ein Falke rüttelnd in der Luft. Luise blieb stehen und hatte ein seltsames Gefühl in der Brust. Dass diese Sehnsucht nach der Unendlichkeit nie aufhörte. Sie war so viel geflogen, aber auch dann noch, auch wenn man oben im Himmel hing und alles unter einem wirklich weit weg und sehr klein war, auch in diesem Glück blieb ein kleiner Rest Sehnsucht nach der noch größeren Ferne, nach noch größerer Höhe und noch weiterem Raum. Und jetzt konnte sie nicht einmal mehr fliegen. Sie gab sich einen Ruck und ging weiter, doch als das Pfarrhaus in Sicht kam, die weiß gekalkten Mauern und die Bäume, in deren Kronen das lichte Grün allmählich dichter wurde, blieb sie noch einmal stehen. Sie hatte nicht zurückkehren wollen. Sie liebte das Haus, aber es war das Haus ihrer Kindheit und Jugend. In den letzten sechs Jahren war sie zu den Weihnachtsfesten gekommen und zweimal zum Geburtstag ihres Vaters und dann noch einmal für zwei Wochen im Sommer. Es war ein seltsam trauriges Gefühl, in dieses Haus zu kommen, ohne zu wissen, dass man in ein paar Tagen wieder fahren konnte. Sie holte tief Luft und streckte sich. Es half ja nichts. Sie musste die Zähne zusammenbeißen. Und es war ja nicht für immer.
    Als sie schließlich vor der Tür des Pfarrhauses stand und wie eine Fremde läuten musste, war ihr sehr warm. Das Kostüm eignete sich nicht dazu, in unerwarteter Maienhitze Koffer durch die Stadt zu schleppen. Sie wünschte, sie hätte eines der leichten Sommerkleider ihrer Schulzeit an, aber die hingen hier im Schrank – in München auf dem Seminar hätte sie so etwas nicht anziehen können.
    Sie läutete wieder. Im Haus war es sehr still, dann hörte sie, wie im Garten der General zu bellen anfing, heiser, und anschließend, wie jemand die Terrassentür öffnete und ins Haus ging. Sie vernahm die langen Schritte ihres Vaters und das Klicken der Hundepfoten auf dem Steinboden im Flur, und dann hatte er auch schon die Tür geöffnet. Der General sprang hoch und stemmte ihr beide Pfoten auf die Brust. Luise musste ihn erst klopfen und streicheln, bis die Dogge, immer noch vor Freude winselnd, wieder auf allen vieren stand.
    »Hallo, Papa«, sagte sie dann.
    »Luise«, erwiderte ihr Vater statt eines Grußes. Er klang ein bisschen überrascht. Luise trat ein. Ihr Vater nahm ihr den Koffer ab.
    »Du hast meinen Brief doch bekommen?«, fragte Luise ein wenig verunsichert und befahl dem General, Platz zu machen. Der Hund gehorchte so, als sei sie nie fort gewesen.
    »Ja«, antwortete ihr Vater, »aber ich hatte später mit dir gerechnet.«
    »Ich wollte nicht mit hundert Ausflüglern im Zug sitzen, deshalb habe ich den ersten genommen.«
    Ihr Vater stellte den Koffer vor der Treppe ab und drehte sich zu ihr um. »Schön, dass du da bist«, sagte er einfach.
    Die kleine Fremdheit zwischen ihnen verflog. Luise sah ihren Vater an. »Wir scheinen alle zurückzukommen, wenn es draußen nicht weitergeht«, sagte sie ein wenig spöttisch, »erst Paul, dann ich.«
    Ihr Vater winkte ab, nahm den Koffer und trug ihn die Treppe hoch

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