Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
Vom Netzwerk:
vorbei, die sich länger aufhielten. Man hörte halblautes, manchmal auch deutlich ausgesprochenes Murren in den Unterhaltungen der Leute, die beieinander stehen blieben, um das Unerhörte zu besprechen. »Zucht und Ordnung«, konnte man verstehen, denn diese Worte fielen immer wieder. Einer der Grundschullehrer, der auch deutschnational wählte, bedauerte laut die Bolschewisierung der Kirche und dass so was auf dem flachen Land nicht passiert wäre, wo das Volksempfinden noch gesund sei. Der Stadtrat Ellwanger von der BVP erklärte einigen Frauen, dass die Unzucht der Jugend von der Nacktkultur der SPD käme, und fragte sich ziemlich lautstark, ob man in Zukunft wohl auch Scheidungen in der Kirche feiern würde.
    Luise sah zu ihrem Vater hin. Er hörte das alles genauso, und es war ja auch für seine Ohren gedacht. Eine leichte Röte war in seine Wangen gestiegen, aber er ließ sich nichts anmerken. Doch dann kam der Mesner aus der Kirche, als Letzter, wie immer. Luise und Elisabeth wandten sich ihm zu, ebenso wie all die anderen Leute, die noch vor der Kirche stehen geblieben waren. Luises Vater straffte sich und streckte nach einem kurzen Augenblick auch ihm die Hand entgegen.
    Der Mesner nahm sie nicht. Die Röte aus seinem Gesicht war wieder verflogen, und mit gewohnt gelblicher Farbe wirkte er wieder so verbissen wie immer, als er laut zitierte: »Wisset ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnet? So jemand den Tempel Gottes verderbet, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig, der seid ihr.« Und dann fügte er an, voller Hass: »Wir hier, wir sind nicht in München und auch nicht in Sowjetrussland. Wir hier, wir lassen uns unseren Glauben nicht kaputt machen von einem Bolschewikenpfarrer. Solange Sie hier sind, werde ich diese Kirche nicht mehr betreten. Amen.«
    Er sagt tatsächlich »Amen«, dachte Luise verblüfft und hörte, wie Elisabeth leise prustete. Aber viele andere raunten zustimmend, und Ellwanger rief sogar halblaut »bravo«. Ihr Vater sagte nichts. Die Kirche war jetzt leer, und er ging hinein, ganz wie immer, um in die Sakristei zu gelangen. Die Tür ließ er offen stehen, denn es war eigentlich Aufgabe des Mesners, sie zu schließen. Die Leute zerstreuten sich. Plötzlich hatten es alle eilig, in die Wirtshäuser oder nach Hause zum Sonntagsbraten zu kommen. Die Sonne schien heiß auf den Kirchenvorplatz. Der Skandal war fürs Erste vorbei. Und Eva war immer noch in ihr Zimmer eingesperrt.
    Elisabeth sah nach oben. Ob nach der Kirchturmuhr oder den Mauerseglern, die mit schrillen Rufen und in unfassbar engen Kurven durch die Luft rings um den Turm stürzten, konnte Luise nicht erkennen.
    »Es wird Zeit, hier fortzugehen«, sagte sie kurz und ohne ihr übliches Lächeln, und Luise verstand erst einen Moment später den doppelten Sinn ihrer Worte. Aber da war Elisabeth schon halb über den Platz und hob nur noch einmal, ohne sich umzudrehen, die Hand zum Gruß.
    Ja, dachte Luise und atmete tief ein, es wird wirklich Zeit.

Teil II

1

    Es war ein erster Mai, an dem Luise nach Hause zurückkehrte. Schon in München waren die Straßen beflaggt gewesen, und es hatte auf ihrem Weg zum Bahnhof kaum ein Haus ohne Fahnen gegeben. Obwohl sie den Siebenuhrzug genommen hatte, war ihr schon eine Kolonne festlich gekleideter SA-Männer begegnet, die singend zum Odeonsplatz marschierte.
    Und hier herrschte dieselbe Atmosphäre. Es war ein heiterer Tag mit wenigen Wolken – »bayerischer Himmel« hatte Greben so etwas immer lächelnd genannt, als sie noch gemeinsam geflogen waren. Rings um den Bahnhofsvorplatz leuchteten die Fahnenstangen weiß, aber die Fahnen hingen schlaff herunter, weil kein Wind ging. Aus der Innenstadt schallte Marschmusik he­rüber; die Pauken waren am deutlichsten zu hören. Luise musste daran denken, wie gerne sie als Kind solche Marschmusik gehört hatte, wie ungeduldig sie zu den Umzügen hingerannt war, um die Männer in ihren prächtigen Uniformen zu bewundern, wenn sie mit klingendem Spiel zum Schützenhaus marschierten oder zum Kirchweihbaum oder zum Erntedankgottesdienst. Irgendwie hatte es in ihrer Kindheit oft solche Umzüge gegeben, dachte sie. Und sie waren damals heiterer gewesen als heute, aber vielleicht kam ihr das nur so vor, weil sie selbst mit sehr gemischten Gefühlen aus dem Zug gestiegen war.
    Die Lokomotive pfiff und ruckte an, stoßweise kam der Rauch aus dem Schornstein, vermischte sich mit den Dampfwolken

Weitere Kostenlose Bücher