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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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die auch heute nicht die Freiheit hat, Gottes Wort zu hören.«
    Luise brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass ihr Vater eben ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen hatte, dass er tatsächlich Evas Namen öffentlich von der Kanzel herunter ausgesprochen hatte. Und es war, als sei plötzlich ein Ruck durch die sommerschläfrige Gemeinde gegangen. Alle schauten zuerst zum Pfarrer und dann zum Mesner, der etwas verwirrt, so, als hätte er nicht recht verstanden, zur Kanzel hochsah.
    »Der eine Mensch ist Eva Schwarz, und der andere ist ihr Vater«, sprach Luises Vater weiter.
    Elisabeth beugte sich zu ihr herüber und wisperte: »Dein Vater hat Mut!«
    Luise nickte etwas verwirrt.
    »Ein guter Hirte«, sagte Luises Vater jetzt in klarem, scharfem Ton, »darf nicht im Gras liegen und schlafen, wenn seine Herde sich auf falsche, gefährliche Wege begibt. Er darf seinen Schafen nicht erlauben, in die Dornen zu fallen oder in eine Schlucht. Er muss sie halten und ermahnen. Und deshalb muss ich dich«, er deutete mit einer leichten Kopfbewegung zum Mesner, »und euch«, er wandte sich an die Gemeinde, »mahnen. Ernsthaft mahnen! Jesus hat die Freiheit in die Welt gebracht. Jesus hat den Jüngern gesagt, dass Freiheit nicht bedeutet, dem Gesetz nach frei zu sein, sondern im Inneren frei zu werden. Wer die Bibel, das Wort Gottes, als Gesetz versteht, das einem erlaubt, seine Mitmenschen zu verletzen, sie einzusperren und ihnen die Freiheit zu nehmen, der hat sie gar nicht verstanden. Solche Menschen, sagt Jesus in diesem Johanneswort, sind die Knechte der Sünde.«
    Der Mesner, auf den sich jetzt alle Blicke richteten, war wie von Blut übergossen. Sein sonst so blasses Gesicht leuchtete, und man sah, wie er die Zähne zusammenbiss. Luise spürte auf einmal Aufregung und mit ihr so etwas wie eine Leichtigkeit und einen vibrierenden Stolz auf ihren Vater in sich aufsteigen; umso mehr, als sie hören konnte, wie seine Stimme ganz leicht, fast unhörbar, vor Aufregung zitterte.
    »Es kann nicht recht sein, ein junges Mädchen für etwas einzusperren, das Gott selbst in die Welt gebracht hat. Gott hat uns zu Menschen gemacht, zu Mann und Frau, und er hat uns auch zu der Lust gemacht, die wir aneinander haben sollen. Wann sonst als in der Jugend, im Frühling, wann sonst sollen junge Menschen diese Lust am Leben spüren? Sünde kann das sein, vielleicht«, wurde ihr Vater beschwörend leiser, »aber wahres Christentum, so wie es Jesus gepredigt hat, wahres Christentum liegt in der Vergebung, nicht in der Strafe. Und Freiheit der Rede, Freiheit des Glaubens und Freiheit des Herzens, das ist das Geschenk, das Gott uns in seinem Sohn gebracht hat. Wer das nicht bedenkt, wirft die Freiheit fort.«
    Er machte eine kleine Pause und atmete tief ein, dann sprach er die Schlussformel. »Amen. Gott bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.«
    Die Gemeinde antwortete nur sehr zögernd mit »Amen«, und nicht alle sprachen mit. Der Organist begann hastig, das nächste Lied zu spielen, während Luises Vater noch auf der Kanzel stehen blieb und die erste Strophe sang, bevor er die Treppe wieder hinunterstieg. Nur halbherzig stimmte die Gemeinde ein, und auf einmal hörte man die Tür klappen. Und dann noch einmal. Ein paar Leute waren aufgestanden und verließen den Gottesdienst. Aber es gab auch Gesichter, denen Luise die Zustimmung zu den Worten ihres Vaters ansah. Manche grinsten schadenfroh – viele konnten den Mesner nicht leiden. Andere wieder fanden es wohl einfach spannend, dass der Gottesdienst einmal nicht langweilig und wie gewohnt verlief. Luise sah zum Mesner. Er atmete hastig und war wieder bleich geworden. Er und ihr Vater wechselten bei ihren Verrichtungen keinen Blick, und als der Mesner zum Glockenläuten beim Vaterunser an ihm vorbei in die Sakristei musste, spürte man förmlich seinen Hass. Trotzdem ging der Gottesdienst zu Ende wie immer. Luise bemerkte, wie ihr Vater tief Luft holen musste, als er beim Ausgangschor durch das Schiff nach vorne ging, um am Kirchentor, so wie jeden Sonntag, allen Gemeindemitgliedern die Hand zu geben. Sie beeilte sich, ihm schnell hinterherzukommen, aber als Erste schaffte sie es nicht nach draußen.
    Ihr Vater stand an der Kirchentür und schüttelte Hände, aber während sonst alle brav warteten, bis sie an der Reihe waren, um beim Händedruck zwei, drei Worte über die schöne Predigt zu wechseln oder auch über Familiendinge, so drängten sich heute viele Leute an denen

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