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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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am Altar.
    »Und wenn auch nicht im Kampf für das neue Deutschland, wie so viele aus unseren Reihen, so ist unser Kamerad Martin Hammerer doch an der Front gestorben. An der Front der Arbeit, wo er sich unermüdlich hineingeworfen hat, um zusammen mit allen anderen das neue Deutschland zu … zu errichten.«
    Er hatte sich verhaspelt. Luise seufzte und gab sich Mühe, nicht gelangweilt zu wirken. Nicht wegen Gerstenberger, sondern um die Pietät zu wahren. Aber es ging so weiter. Gerstenberger bemühte alle Klischees, sprach von stählernen Muskeln der Jungs an der Heimatfront, von Martins unbeugsamem Willen zur nationalen Sache, und dabei war er doch einfach bei einem dummen Unfall im Steinbruch gestorben.
    »Und so«, wurde der Kreisleiter immer pathetischer, »wird Martin Hammerer in Horst Wessels himmlischem Sturm da oben weiterkämpfen.« Er deutete nach oben und schwieg.
    »Nein!«, kam es da plötzlich und sehr scharf. Es hallte durch die Kapelle. Luises Vater war an den Sarg getreten. Sein Gesicht flammte. Luise hatte ihn nur selten so gesehen und wusste, dass er jetzt wirklich wütend war.
    »Das«, rief er jetzt impulsiv, »wird Martin Hammerer nicht. Es gibt da oben« – er äffte wütend Gerstenbergers pathetischen Ton nach – »keinen himmlischen SA- oder HJ-Sturm. Da oben nicht. Es gibt eine Auferstehung und sonst gar nichts.«
    »Jetzt hören Sie mal!«, begann Gerstenberger, der sich überlegen fühlte. »Das ist doch …«
    Er kam nicht weiter. Luises Vater fuhr dazwischen. »Nein! Sie hören! Ich dulde ganz gewiss keine Gotteslästerung, keine Blasphemie in meinem Gottesdienst. So weit sind wir noch nicht! Kein himmlischer Sturm wird jemals die Auferstehung ersetzen! Und wir fahren jetzt in gottgefälliger Weise mit dieser Andacht fort!«
    Luise fühlte, dass sie blass geworden war. Das war nicht gut. Warum hatte Papa sich nicht zurückgehalten? Vor allem, weil Gerstenberger nicht aufgab. Die Gemeinde war unruhig ­geworden. Man hörte ein Murren, aber Luise konnte nicht sagen, auf wen sich das bezog.
    »Der Hammerer Martin war vor allem ein Hitlerjunge«, sagte Gerstenberger jetzt schlau und böse, »da wird man ihn schon noch ehren dürfen. Zusammen mit dem Märtyrer der Bewegung Horst Wessel wird er von da oben auf uns herabsehen. Der Führer hat da ganz klare …«
    »Der Führer wird«, unterbrach ihn Luises Vater jetzt klar und scharf, »genauso wie wir alle einstmals auferstehen. Das ist es, was Gott gesagt hat und was in der Bibel steht und was wir glauben. Und ob Horst Wessel ein Märtyrer war und von da oben, wie Sie sagen, auf uns herabsieht, das entscheidet nicht die Partei und nicht der Führer und nicht Sie. Das entscheidet Gott allein. Ich verbitte mir jede weitere Störung des Gottesdienstes. Und jetzt lasst uns beten!«
    Luise sah ihren Vater an, der für einen Augenblick dünn, bärtig und hoch aufgerichtet in seinem Talar dastand wie einer der biblischen Propheten, aber er erwiderte ihren Blick nicht, sondern drehte sich zum Altar um und begann: » Vater unser im Himmel … «
    Erst jetzt stand die Gemeinde auf und fiel mit ein. Gerstenberger, der zunächst nicht wusste, was er tun sollte, ging auf seinen Platz zurück. Klack-Klick hörte man es durch den Chor der Worte. Luise sprach das Vaterunser mechanisch mit. Ihre Gedanken überschlugen sich, ohne dass sie sie zu Ende denken, sie richtig fassen konnte. Wie mutig ihr Vater war! Und wie dumm! Sie warf vorsichtige Blicke nach rechts und links, aber sie konnte nicht aus den Gesichtern lesen, was die Menschen dachten. Nur Gerstenberger hatte die Zähne zusammengebissen. Der würde das nicht vergessen, dachte Luise ahnungsvoll, der nicht.

    Der Zug zur Grablege verlief ohne Störung. Zwar kommandierte der HJ-Führer seine Schar mit besonders scharfen Kommandos, zwar rissen sie am Grab alle besonders zackig den Arm hoch, aber das war alles nicht anders als bei Bestattungen, die Luise bisher miterlebt hatte. Der Kreisleiter gab sich keine Blöße mehr. Er stand fast lächelnd am Grab, warf als Erster nach der Familie drei Schaufeln Erde auf den Sarg und salutierte vor den Eltern, als er sein Beileid ausdrückte. Luises Vater sprach den Segen und ging dann, ohne sich noch einmal umzusehen, zurück in die Sakristei. Luise war einen Augenblick versucht, ihm zu folgen, dann blieb sie doch lieber noch am Grab stehen. Natürlich sprach jetzt keiner von etwas anderem.
    »Unverschämtheit!«, hörte sie aus den Reihen der Hitlerjungen,

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