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Ein Lied über der Stadt

Ein Lied über der Stadt

Titel: Ein Lied über der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ewald Arenz
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verächtliche Bemerkungen über die ewiggestrigen Christen und dass der Führer längst hätte durchgreifen sollen. Unter den Erwachsenen waren die Meinungen nicht so klar auszumachen. Ein alter Mann trat sogar zu Luise, schüttelte ihr die Hand und sagte leise: »Das war ganz recht, was Ihr Herr Vater da gesagt hat, ganz recht.«
    Luise dankte, aber es war ihr fast unangenehm, denn sie sah, wie Gerstenberger sie genau beobachtete. Sie war erleichtert, dass es zu nieseln begann und die Leute sich deshalb rasch zerstreuten. Als sie an Gerstenberger vorbeiging, sagte der zum HJ-Führer so, dass sie es hören musste: »In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!«
    Sie beeilte sich, nach Hause zu kommen.

7

    Paul hatte schon davon gehört, als er zum Essen nach Hause kam. Es war Samstag, deshalb kam er schon mittags. Anscheinend hatte die Stadt kein anderes Gesprächsthema als Pfarrer Anding, der dem NS-Kreisleiter und kommissarischen Bürgermeister mitten im Gottesdienst über den Mund gefahren war.
    Luana trug eben die kleinen Suppentassen auf. Es gab zuerst Tacacá , eine Suppe, die eigentlich aus Maniokmehl gemacht wurde, aber weil es Maniok in Deutschland nicht gab, verwendete Luana meist Weizenmehl dazu. Obwohl Luana immer entschuldigend sagte, man könne sie eben mit Weizenmehl einfach nicht so gut zubereiten wie mit Maniok, kannte Luise sie nicht anders und mochte sie sehr gern. Ihr war in der Münchener Zeit gar nicht bewusst gewesen, wie sehr ihr Luanas brasilianische Küche gefehlt hatte. Es gab fast keine scharfen Gerichte in Deutschland, nur Meerrettich und Senf, und das war es auch schon. Aber sie liebte die feine, vielfältige Schärfe, die in Luanas Speisen steckte. Die anderen wussten gar nicht, wie viel anderes es außer den gewohnten Alltagsgerichten noch zu schmecken gab, dass sie eine ganze Welt an Aromen einfach nicht kannten. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Gerstenberger so etwas jemals essen würde.
    Paul hatte sich schweigend zum Essen gesetzt. Auch Luise hatte nichts gesagt. Ihr Vater sprach ein kurzes Gebet. Dann aßen sie. Luana versuchte, die gedrückte Stimmung zu überspielen und erzählte von der deutschen Jary-Expedition, die eben ins Amazonasgebiet aufgebrochen war, um seltene Urwaldtiere für Berliner Museen zu jagen.
    »Außerdem«, schloss sie mit Blick auf Luise, »wollen sie auf dem Amazonas ein Wasserflugzeug ausprobieren.«
    Luise war – fast gegen ihren Willen – interessiert.
    »Wie wollen sie es durch den Urwald bringen? In Booten? Oder fliegt die ganze Expedition?«, fragte sie Luana.
    Die zuckte fast amüsiert die Schultern. »Ich glaube, die wissen es noch nicht. Von denen war, was ich gelesen habe, noch keiner im Amazonasgebiet. Die wissen nicht, was das heißt.«
    »Wieso?«, fragte Luise nach.
    Paul hob nicht den Kopf, als er sagte: »Das ist nicht wie hier. So eine Luftfeuchtigkeit kannst du dir nicht vorstellen. Da schimmelt dir das Segeltuch von den Flügeln, die Verspannungsdrähte rosten beim Zusehen durch, und das europäische Holz verzieht sich so, dass alle Fugen aufgehen.«
    Luise sah zu ihrem Vater hinüber. Er aß mit großen Unterbrechungen und wirkte abwesend. Das Gespräch schlief ein. Luana brachte die Hauptspeise: Bobó de camarão . Es war etwas ganz Besonderes, ein Sonntagsgericht. Eigentlich gehörten Garnelen hinein, aber Luana behalf sich mit Flusskrebsen, und so war es ein schönes Beispiel dafür, wie fränkische und brasilianische Küche zusammenkamen. Luise überlegte, ob Luana es gekocht hatte, um ihren Vater aufzuheitern, aber im Grunde konnte sie ja kaum so schnell gehört haben, was auf dem Friedhof geschehen war. Obwohl, dachte sie, wenn Luana auf dem Markt eingekauft hatte – in dieser Stadt verbreitete sich Klatsch ungeheuer schnell.
    Paul, der nach seinem Kommentar schweigend gegessen hatte, wandte sich plötzlich, fast ruckartig, an seinen Vater. »Das war nicht sehr klug, Papa.«
    Luises Vater legte sein Besteck sorgfältig am Tellerrand ab, dann lehnte er sich zurück.
    »Ja«, gab er leise zu, »vielleicht. Aber«, fuhr er dann nachdenklich fort, »es war richtig. Und es war notwendig.«
    Paul legte sein Messer auch hin. Es klapperte. »War das wirklich nötig? Den Kreisleiter in der Kirche zu beleidigen? Papa, ich denke doch nur an dich. Das wird er sich nicht gefallen lassen. Du kennst die nicht. Die vergessen nichts. Die …«, er brach ab, aber dann fragte er doch: »Wieso? Wieso hast du nicht

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